Der Steinturm

Delerium - "Stone Tower" (Album)


März 2008: Verschüttete Irrwege.

Der matte Schein der Außenbeleuchtung brach sich im Rauhglas und glänzte auf dem Türrahmen aus Aluminium. Tains Schlüssel paßte zu allen Türen des Gebäudes, nur zu dieser einen Glastür paßte er nicht. Als Tain klingelte, hörte er von drinnen her den leisen Ton. Nichts rührte sich.
Tain wußte, daß niemand da war. Es konnte niemand da sein, nicht um diese Zeit.
Tagsüber kam regelmäßig jemand, um die Topfpflanzen zu gießen und Staub zu wischen. Staale hütete diese Räume; er gab sie an niemanden weiter, als wenn sie noch auf jemanden warteten, der zurückkommen sollte.
Die verglaste Aluminiumtür war die letzte in einer Reihe von Türen des einstöckigen Bürogebäudes. Die Türen führten auf einen erhöht gelegenen, mit Betonplatten gepflasterten Weg, der mit Geländern gesichert war. Links von der letzten Tür befand sich das letzte Geländer, am Ende des Weges. Dahinter befanden sich Sträucher und Bäume, die jetzt im Dunkeln nur schemenhaft zu erkennen waren.
Tain machte es sich auf dem letzten Geländer bequem und zündete sich eine Zigarette an. Er wußte, daß er durch die Kameras beobachtet wurde. Ganz Lanwer wurde sorgsam überwacht. Aber durch Kameras würde man nicht erfahren können, was in ihm vorging. Man würde denken, daß er sich nur zum Rauchen hierher zurückzog.

Tain dachte an das Haus seiner Familie. Es stand abgelegen am Rande eines Weilers im Spessart, ein langgestreckter Bungalow. Die Eltern hatten das Haus gebaut, kurz bevor Tain zur Welt gekommen war, Anfang der siebziger Jahre. Die Mauern waren mitsamt den Fugen weiß gestrichen, die hölzernen Fensterrahmen und die Außentüren waren schwarz gestrichen. Im Winter war das Gebäude kaum zu sehen in dem verschneiten Wald mit seinem Schwarz und Weiß. Auf den Treppenstufen aus Waschbeton lagen Kiefernnadeln, und es duftete nach Harz. Zwischen den kahlen Baumstämmen hing eisiger Nebel.
Tains Eltern, Ida und Theodore, hatten auch das Innere des Hauses in Schwarz und Weiß gehalten. Der Boden war im Schachbrettmuster gefliest. Alle Möbel waren schwarz oder weiß oder hatten abstrakte Designs in Schwarz und Weiß.
Nachdem Ende des Jahres 1986 seine Mutter gestorben war und sein Vater eine weit entfernt liegende Stelle angenommen hatte, war Tain selten zu Hause und lud auch keine Freunde ein. Die Haushälterin wurde von Theodore bezahlt und war beinahe häufiger da als Tain. Es war so still hier draußen, daß man hätte sagen können, es herrschte eine Friedhofsruhe auf dem einsamen Grundstück.
Erst im Februar 1991 kam wieder Besuch, unerwarteter Besuch - Idas Halbbruder Thara und dessen Mentee. Es war Zufall, daß sie Tain zu Hause antrafen. Tain begrüßte sie steif und etwas verunsichert. Thara stellte ihm seinen Mentee vor, Leen Dayna. Ehe Tain fragen konnte, was die beiden hier bei ihm wollten, erkundigte sich Thara nach Tains Zukunftsplänen:
"Du hast Abitur. Und der Wehrdienst ...?"
"Hab' mich ausmustern lassen, war nicht besonders schwer, hab' denen irgendwas erzählt."
"Und wie geht es für dich weiter?"
"Informatik, aber ich weiß noch nicht, was genau", erzählte Tain. "Zur Zeit programmiere ich, freiberuflich."
Sein Blick fiel auf Leen, der durch das bodentiefe Wohnzimmerfenster den Winterwald betrachtete. Das nachmittägliche Dämmerlicht färbte den Schnee rosagolden.








"Mehr als vier Jahre ist es her", sagte Leen in Gedanken, "daß Ida hier draußen umgekommen ist. Ich habe sie nicht gekannt, ich weiß das nur von Thara."
"Wie geht es dir?" wollte Thara von Tain wissen.
"Nicht schlecht", gab Tain zur Antwort. "Man lebt."
"Und wie geht es Theodore?" erkundigte sich Thara.
"Das weiß ich nicht so genau", entgegnete Tain. "Wenn er hier ist, bin ich meistens nicht da, und er ist nur selten hier, weil er auswärts arbeitet."
"Wohnt er hier gar nicht mehr?"
"Eher nicht."
Leen wandte sich Tain zu und fragte:
"Wie alt bist du?"
"Zwanzig."
"Das heißt, seit du fünfzehn bist, bist du hier - mehr oder weniger - allein."
"Was wollen sie mir verkaufen?" dachte Tain. "Sie fragen nach mir, aber weshalb? Was geht mein Schicksal sie an?"
"Wenn du mitkommen willst nach Saroud, ruf' diese Nummer an", sagte Thara und legte eine Visitenkarte auf den schwarzen Eßtisch.
"Mitkommen?" wunderte sich Tain. "Nach Saroud?"
"Du kennst Saroud gar nicht", gab Thara zu bedenken. "Deine Mutter kam von dort, und du kennst es nicht."
Tain betrachtete den Eßtisch, der vor dem Wohnzimmerfenster stand, immer noch an derselben Stelle wie damals.
"Hier haben Ida und Theodore sich gestritten", dachte Tain.
"Weshalb haben sie sich gestritten?" fragte Leen.
"Wie?"
"Weshalb haben sie sich gestritten?"
"Woher weißt du, was ich gedacht habe?"
"Es war doch so", sagte Leen, "es gab einen Streit zwischen Ida und Theodore, und Ida lief nach draußen, in die Kälte."
"Meine Eltern hatten öfter mal Streit."
Thara zeigte auf die Visitenkarte.
"Ruf' dort an", bat er Tain. "Du kannst beruflich weit kommen."
Thara und Leen brachten etwas in dieses Haus, das Tain nicht gewohnt war, ein Gefühl, das ihn mit sich ziehen wollte. Am Ende vermochte Tain den beiden nur nach Saroud zu folgen unter der Vorgabe, daß es sich um eine rein geschäftliche Angelegenheit handelte. Dabei hatte die Aussicht, in eine fremde Welt zu ziehen, in Tain eine Hoffnung geweckt. Er stellte sich vor, auf Saroud etwas finden zu können, wonach er auf Erden vergeblich gesucht hatte. Es sollte etwas sein wie eine virtuelle, überirdische Existenz, die Unverletzbarkeit und Unantastbarkeit versprach. Doch als das Fremdartige zum Alltag geworden war, erkannte Tain, daß es auch auf Saroud nichts anderes gab als eine Welt, in der sterbliche, unvollkommene Wesen lebten, so recht und schlecht sie eben konnten - und Tain war eines von ihnen. Immerhin, er machte auf Saroud Karriere.
Was Leen betraf, so begegnete Tain ihm über Jahre hinweg nur selten. Innerhalb der wenigen Augenblicke und der kurzen, belanglosen Unterhaltungen erfuhr Leen allerdings weitaus mehr über Tain, als dieser ihm mitteilen wollte.
Tain fühlte eine zunehmende Leere in sich, die ihm aus seiner Jugend vertraut war. Er fand auf Saroud nichts mehr, was ihn davon hätte befreien können. Mit achtundzwanzig Jahren plante er die Rückkehr nach L /. 7, seine irdische Heimat. Er wußte nicht, ob es dort etwas gab, was die Leere beenden konnte, doch einen anderen Weg sah er für sich nicht.
Tain bekam im irdischen Jahr 1999 die Gelegenheit, auf Lanwer zu arbeiten, einer Außenstelle von Saroud auf L /. 7. Seine Karriere würde er dort fortsetzen können.
Unantastbarkeit und Unverletzbarkeit blieben für Tain die wichtigsten Ziele. Er hatte schon immer damit gehadert, sich nicht in eine Maschine verwandeln zu können. In der Transporteinheit, die Tain nach L /. 7 bringen sollte, traf er den Androiden Sel Veey. Tain beneidete Sel Veey um dessen Gefühllosigkeit.
Auf dem Weg nach L /. 7 überschlugen sich die Ereignisse. Tain bekam Streit mit Sel Veey, als er sich Tabletten aus dem Lager holen wollte. In der Kommandozentrale der Transporteinheit konnten kurz darauf die Crewmitglieder Tain dabei zusehen, wie er zusammenbrach. Tain wollte dieses Ereignis aus seinem Gedächtnis löschen. Die Erinnerungen drängten sich jedoch immer wieder nach vorne, ebenso wie die Erinnerungen an Raum beta/b.
In der Transporteinheit war Raum beta/b das Büro von Leen und Rega gewesen. Als Tain von Sel Veey aus der Kommandozentrale dorthin gebracht wurde, hatte sich der Raum verändert. Das Licht war heller geworden, und die Möbel waren an die Wände gerückt. Ein Möbelstück schien sich aber noch in der Mitte des Raumes zu befinden. Tain fiel auf, daß die Zimmerdecke leuchtete, ohne daß dort Lampen zu sehen waren.
"Das ist doch nicht Raum beta/b", sagte Tain.
"Doch, da sind wir", versicherte Sel.
"Dann bringst du mich sofort hier weg", verlangte Tain.
Er wollte sich aufrichten. Sels gepolsterte Stahlarme legten sich über ihn.
"Willst du, daß das hier eskaliert?" rief Tain. "Du kannst das haben."
Tain wußte nicht, was in ihm jede Bewegung erstarren ließ. Er konnte nur die Leute um sich herum betrachten. Er sah nicht, was sie taten.
Bei dem Gedanken an die Ereignisse in Raum beta/b kam Tain ein Vers aus "Darkness" von The Police in den Sinn:
"I wish I never woke up this morning. Life was easy when it was boring ..."
Tain sah sich einem zynischen Schicksal ausgesetzt, das er auch vor der Abreise nach L /. 7 nicht hätte beeinflussen können. Nichts von dem, was in der Transporteinheit geschah, wäre zu verhindern gewesen.
Staale entschied, daß Tain die Reise nach L /. 7 nicht fortsetzen sollte, sondern nach Saroud zurückkehren sollte, in ein Forschungsinstitut in Stellwerk-SalaRien. Tain konnte von dort aus den Stadtteil Birkwald sehen, wo sich seine Wohnung befand, auf der anderen Seite eines Tales. Tain hatte die Wohnung nicht aufgegeben, obwohl er vorhatte, für unbestimmte Zeit in L /. 7 zu bleiben. Indes, Tain bezweifelte, daß es ihm überhaupt noch ermöglicht wurde, nach L /. 7 zu gelangen. Staale hatte es in der Hand, das zu verhindern. Und Tain konnte sich nicht vorstellen, daß Staale ihn behalten wolle, nach allem, was vorgefallen war.
Tain war überzeugt, versagt zu haben und Staales Erwartungen nicht mehr erfüllen zu können. Er lebte in der Vorstellung, daß Staale ihm ohnehin kündigen würde, nur der Zeitpunkt war ungewiß.
Für Tain war es befremdlich, daß Staale sowohl Sel Veey als auch Leen und Rega mit ihm nach SalaRien geschickt hatte. Tain erlebte den Aufwand, der seinetwegen betrieben wurde, als unangebracht.
Was Tain am meisten verstörte, war die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Die Leute in SalaRien fragten nach seinen Wünschen. Tain bekam Hilfe und Unterstützung, ohne darum zu bitten.
"Wenn sie arrogant und brutal wären, wüßte ich wenigstens, woran ich mit ihnen bin", dachte Tain. "So paßt doch nichts zusammen. Immer sind sie nett, und gleichzeitig greifen sie mich an, Tag für Tag."
Tain war der Ansicht, daß es Leen nur darum ging, Tains Willen zu brechen. Er konnte sich Leens verbindliches, freundliches Verhalten nicht erklären. Letztlich vermutete Tain, daß die Zuvorkommenheit, mit der Leen ihm begegnete, dazu dienen sollte, noch mehr Macht und Kontrolle über ihn zu erlangen. Das war ein besonders durchtriebenes Konzept: Leen versuchte, Tains Vertrauen zu erschleichen, um ihn, wenn er sich darauf einließ, bloßzustellen und zu demontieren.
Tain wollte sich selbst vernichten, weil er nicht verhindern konnte, daß andere über ihn bestimmten. Er warf sich vor, sich nicht längst zu Tode gestürzt zu haben. Das machte ihm fast noch mehr zu schaffen als die Ereignisse in Raum beta/b:
"In Raum beta/b konnte ich nichts entscheiden. Jetzt kann ich es - und bleibe untätig."
Tain war in dem Institut in SalaRien ein Zimmer zugewiesen worden, ein heller, großer Raum mit einem Balkon, in dem es nicht viel mehr gab als Wandschrank, Bett, Tisch mit Stühlen und Sessel. Weil das Zimmer sich in einem Bürotrakt befand, ging Tain davon aus, daß es sich um ein ehemaliges Büro handelte. Ein Bad schien nachträglich eingebaut worden zu sein. Die Suite, die so entstanden war, besaß eine schlichte Eleganz, eine zurückhaltende Form von Luxus, verführerisch durch ihre Unaufdringlichkeit.
Eines Morgens stellte Tain sich in seinem Zimmer vor das Fensterbrett, als die Zeit herankam, um die Sel Veey sich gewöhnlich hier einfand. Sel brachte meistens andere Leute mit und bat Tain, ihm in das Zimmer mit den Milchglasscheiben zu folgen, das sich auf demselben Flur befand. Tain lehnte dies stets ab. Was täglich in dem Zimmer mit den Milchglasscheiben geschah, sollte angeblich dazu dienen, Tain vom Tod zu erretten. Er glaubte jedoch nicht daran. Er glaubte nicht einmal daran, in Todesgefahr zu sein.
"Tain, kommst du mit?" fragte Sel auch dieses Mal.
Tain schüttelte den Kopf.
"Wir kommen nachher wieder", sagte Sel und verließ mit den anderen das Zimmer.
Tains größter Feind war die Schwäche. Er konnte nur kurze Zeit vor dem Fenster stehenbleiben und mußte sich schon bald in einem Sessel ausruhen. Heimlich kaute er auf den verhaßten Nikotinkaugummis herum. Er hatte nicht die Kraft, herauszufinden, mit welchen Argumenten er Sel dazu bringen konnte, ihn zum Rauchen auf den Balkon zu lassen. Tain wollte auch nichts essen und trank nur ab und zu aus einer Wasserflasche. Sooft Sel hereinkam, erhob sich Tain und stellte sich wieder vor das Fenster.
"Ich bleibe jetzt bei dir, bis du müde wirst", sagte Sel gegen Abend.
Er stellte sich neben Tain. Sel war ein Kunstwesen, das nicht atmete. Er stand so ruhig da wie ein Büroschrank oder eine Stahlbetonsäule. Auch das kleinste Rascheln konnte ihm kaum entgehen. Tain wagte nicht, ein neues Kaugummi hervorzusuchen.
Es wurde dunkel. Tain suchte Halt am Fensterbrett und fragte sich, wie er gegen sein Verlangen nach Zigaretten ankämpfen sollte. Er fühlte die Schwäche in sich aufsteigen. Keinesfalls wollte er ihr nachgeben. Sel schwieg und wartete.
Wenig später schreckte Tain aus einem Dämmerschlaf hoch, in den er stehend gesunken war. Er fühlte Sels stählernde Arme unter seinem Körper. Das Deckenlicht wurde hochgedreht. Tain sah Seera, Rega und Leen hereinkommen und auf das Bett zugehen.
"Das gilt nicht", rief Tain. "Ich bin noch nicht müde."
"Dann stehe wieder auf", sagte Leen.
Tain erhob sich. Der Fußboden kam ihm entgegen. Tain versuchte, Halt zu finden, als Sel nach ihm griff und einen Sturz verhinderte.
"Das gilt nicht", wiederholte Tain. "Das war nur, weil ihr nicht lange genug gewartet habt."
"Wir können das jetzt nicht weitermachen", sagte Leen. "Das strengt dich zu sehr an."
"Laßt ihr mich für heute in Ruhe?"
"Gleich, wenn wir fertig sind."
Tain wußte, was das bedeutete. Er warf sich aufs Neue vor, sich nicht zu Tode gestürzt zu haben.
Es war unmöglich für ein menschliches Wesen, gegen Sel Veey anzukommen. Dennoch hoffte Tain, gegen die Schwäche, die ihm so sehr im Wege war, antrainieren zu können. Im Fitneßbereich des Instituts fiel ihm auf, daß Sel Veey ihn nie aus den Augen ließ und ihn immer schon nach kurzer Zeit von den Geräten wegwinkte.
"Was soll das?" beschwerte sich Tain. "Jetzt willst du auch noch verhindern, daß ich mich verteidigen kann."
"Du darfst dich nicht so anstrengen", erklärte Sel. "Es könnte dich das Leben kosten."
"Das ist nicht mein Leben", hielt Tain dagegen. "Es gehört mir doch gar nicht mehr."

Tain verstand nicht, warum er sich in Erinnerungen an Ereignisse verlor, die inzwischen mehr als acht Jahre zurücklagen. Er zog an seiner Zigarette und blickte auf die Betonplatten unter ihm.
"Es ist seltsam", dachte er, "wenn man etwas in Gedanken bewahren will, verläßt es einen und kehrt nie mehr so zurück, wie man es einst gehabt hat. Und wenn man etwas vergessen will und sich von etwas befreien will, dann ist es immer da, immer vor einem, und verläßt einen nie."

Tain sah die Gänge in dem Institut in SalaRien vor sich, durch die er mehr getaumelt als gelaufen war. Er wollte fliehen, das war leicht zu erkennen, doch niemand versuchte, ihn zurückzuhalten. Türen öffneten sich, Mitarbeiter kamen heraus, die an ihm vorbeigingen, ohne ihn zu beachten. Tains Blick fiel auf eine Wanduhr. Gleich würde es soweit sein, gleich würden sie in sein Zimmer kommen und ihn dort nicht finden. Tain ging durch den Keller und entdeckte eine Panzertür, die weit offenstand.
"Wie können sie so unvorsichtig sein?" dachte er. "Am Ende ist das auch nur eine Falle."
An der Betonwand neben der Panzertür leuchteten die Ziffern einer Uhr. Eben war es soweit, sie mußten in sein Zimmer kommen. Tain ging in den Panzerraum und zog die Tür hinter sich zu. Drinnen brannte ein schwaches Deckenlicht. Tain kannte sich mit dieser Art von Panzerräumen aus, weil sie ihm von seiner Arbeit in Stellwerk vertraut waren. Er tippte auf dem Display neben der Tür Befehle und Ziffern ein und erhielt die Meldung, daß die Tür sicher verschlossen war.
Tain ließ sich an der Stahlwand entlang auf den Boden sinken und betrachtete die matt spiegelnden Schränke gegenüber. Es mußte kühl sein hier drinnen, doch er fror nicht.
Leen meldete sich durch einen Lautsprecher:
"Tain, siehst du noch das Display neben der Tür? Ist das noch da?"
"Ja."
"Du mußt eine Ziffernfolge auf dem Display eintippen. Dann öffnet sich die Tür."
"Wegen euch habe ich mich doch hier eingeschlossen", gab Tain zurück. "Warum sollte ich jetzt die Tür wieder öffnen? Warum? Sagt mir nur einen Grund."
"Wenn du die Tür nicht mit dem Zahlencode öffnest, müssen wir die Alarmanlage ausschalten und dich mit schwerem Gerät herausholen. Das kann sehr belastend für dich werden."
"Aber ich will doch hierbleiben."
"Du wirst dich bald so vergiften, daß du die Zahlen nicht mehr eintippen kannst. Dann müssen wir den Panzerraum aufbrechen lassen, um dein Leben zu retten."
"Was soll mich denn vergiften?"
"In dem Panzerraum sind Chemikalien."
"Ach, das stimmt doch nicht, das ist doch nur ein Trick."
"Wir haben nicht viel Zeit. Laß' dir die Ziffernfolge diktieren."
"Lieber lasse ich mich vergiften."
"Tain, ist das Display noch da?"
"Warum sollte das weg sein?"
"Es verschwindet manchmal, dann kann man von innen nichts mehr eintippen."
"Du kannst doch von außen was eintippen."
"Das geht nicht, weil du eine Codesperre aktiviert hast."
"Dann programmiere die doch um."
"Das würde zu lange dauern."
Tain legte sich auf den Fußboden und kramte in seiner Cargo-Hose nach einer Zigarette.
"Tain, ich will nicht, daß du taub wirst von dem Gerät, mit dem wir dich herausholen", sagte Leen mit mühsam erhaltener Fassung. "Das macht einen furchtbaren Lärm."
"Du kannst mir erzählen, was du willst."
"Tain, ich werde dir jetzt die Ziffernfolge sagen."
"Das kannst du gerne machen."
"Tain, dir geht es nicht gut."
"Ich habe mich nur für einen Augenblick hingelegt."
"Versuch', aufzustehen. Ich habe bescheidgesagt, daß wir den Panzerraum aufbrechen. Wenn du es schaffst, stehe jetzt auf und stelle dich vor das Display."
Tain schwieg.
"Stehst du vor dem Display?" fragte Leen.
Tain schwieg.
"Antworte, wenn du noch sprechen kannst", bat Leen.
Tain schwieg.
"Wir brechen in ein paar Minuten den Raum auf", kündigte Leen an. "Ich hoffe, daß es nicht zu spät ist. Ich sage dir jetzt die Ziffernfolge. Vielleicht schaffst du es, sie vorher noch einzugeben."
Er nannte eine Reihe von Ziffern. Tains Hände gehorchten ihm kaum, als er sie auf das Display tippte. Seine Zigarette fiel auf den Boden, ohne daß er dazu gekommen war, sie anzuzünden. Nach der letzten Ziffer blinkte das Display, und die Panzertür schob sich zur Seite. Tain fiel in die Arme von Sel Veey, der ihm entgegentrat. Lautlos brachte Sel ihn fort.
Tain kam in dem Raum mit den Milchglasscheiben zu sich. Leen stand bei ihm, hielt seine Hand umschlossen und sagte nichts.
"Was wollt ihr?" fragte Tain. "Was ist hier los?"
"Wir müssen sichergehen, daß du keine Vergiftungserscheinungen hast", antwortete Sel.
"Was war denn das sonst vorhin?" fragte Tain.
"Das war das, weswegen du hier bist, in SalaRien."
"Ach ... ich weiß. Ihr wollt mich glauben machen, daß ich eure Hilfe nötig habe. Ich brauche aber keine Hilfe. Ich brauche niemanden."
"Zwei Stunden", sagte Leen. "Zwei Stunden sollten wir warten."
"Warum habt ihr diese Tür offengelassen?" begehrte Tain auf. "Das war eine unglaubliche ... das war eine Verantwortungslosigkeit von euch ... dafür wird man euch zur Rechenschaft ziehen."
"Das gesamte Institut ist ein Sicherheitsbereich", erklärte Leen. "Es ist nach außen gesichert. Innerhalb des Gebäudes wird gearbeitet. Du wirst noch mehr solcher Türen finden."
"Ich begreife es nicht ... das war am Ende noch Absicht ... daß ich da 'reingehen soll ... ich kann es nicht glauben ..."
"Du bist nicht unser Gefangener."
Tain fühlte sich von einem atemlosen Lachen geschüttelt.
"Ihr ...", sagte er, "ihr haltet mich nicht gefangen, nein."
"Du kannst gehen, wohin du willst."
"Leen, jetzt habe ich es verstanden - du bist geisteskrank."
"Sel und Casyle werden sich um dich kümmern. In zwei Stunden komme ich wieder."
Leen ging hinaus.
"Ich will rauchen", sagte Tain.
Casyle Sar, das flachsblonde Mädchen im grauen Kleid, blickte Tain aus großen Augen an.
"Du hast doch bestimmt Zigaretten", sagte Tain.
Casyle schüttelte den Kopf.
"Wenn ich es sage, dann hast du welche", bestimmte Tain. "Du bist doch ein Mensch und keine Puppe, oder? Ich dachte fast, du bist eine Puppe."
"Was willst du damit sagen?" erkundigte sich Casyle.
"Ich will beschreiben, was ich sehe", entgegnete Tain. "Ich sehe blonde Haare, ein Engelsgesicht und wunderschöne Augen."
"Warum erzählst du mir das?"
"Weil ich ein Lächeln in dein Gesicht zaubern will."
"Aber Puppen haben doch keine Mimik, oder?"
"Eben. Und wenn du lächelst, weiß ich, daß du keine Puppe bist."
"Soweit ich weiß, gibt es im Institut keine Spielsachen außer den Computern."
"Sel, hast du Zigaretten?" fragte Tain.
"Ruh' dich aus", bat Sel. "Es ist besser, wenn du dich ausruhst."
Leen kam mit Rega, Inir und Léry zurück.
"Danke, Casyle", sagte Leen. "Du mußt jetzt nicht dabeisein."
Tain hatte das Gefühl, unter Wasser zu schwimmen und nicht an die Oberfläche zu gelangen. Er nahm die Konturen seiner Umgebung verzerrt und undeutlich wahr. Geräusche und Worte schienen unwirklich und weit weg. Ihm fiel das Wort "Hilfe" ein, er wußte aber nicht, wozu es gut sein sollte.
Tage später entschloß sich Tain, zu beweisen, daß es nicht seine eigene Entscheidung war, wohin er ging. Leen sollte ihm nichts mehr vormachen können.
Ein langer Flur im obersten Stockwerk des Instituts endete mit einer Wand aus Glasbausteinen. Durch eine Tür gelangte man hinaus auf einen Balkon. Tain wunderte sich, daß die Tür nicht abgeschlossen war. Die offenstehende Tür zu dem Panzerraum ließ Tain noch als Falle hingehen, doch von hier oben konnte er seinem Leben so schnell und mit so großer Sicherheit ein Ende setzen, daß er das Verhalten von Leen und seinen Kollegen als schlichten Leichtsinn empfand.
"Wie lange es wohl dauert, bis sie hier heraufkommen?" fragte sich Tain.
Er trat hinaus in die frostkalte Luft und machte die Tür hinter sich zu. Er war sicher, daß sie ihn überwachten. Dennoch erstarrte er innerlich, als die Klinke sich bewegte und Sel in der Tür erschien.
"Kommst du mit?" fragte Sel.
"Wir sind hier im elften Stockwerk", gab Tain zu bedenken. "Wenn ihr versucht, mich hier wegzuholen, springe ich."
"Leen, Seera und Rega sind gleich hier. Wir werden dich nicht lange allein lassen."
Sel schloß die Tür und ging. Tain zerknickte eine Zigarette in seiner Hand, umklammerte das Geländer und schaute in die Tiefe. Auf den Betonplatten unten im Hof würde er sich zu Tode stürzen, doch wenn er springen wollte, blieb ihm nicht viel Zeit.
Tain hatte das Gefühl, aufs Neue versagt zu haben, als die Balkontür sich wieder öffnete.
"Willst du springen?" fragte Leen. "Ich will dir diese Entscheidung überlassen. Ich will dich nicht daran hindern."
"Du wirst Schwierigkeiten kriegen", entgegnete Tain. "Dir wird man vorwerfen, daß du nicht genug auf mich aufgepaßt hast. Dir wird man meinen Tod vorwerfen. Das kann dich den Job kosten. Es kann sein, daß du nie wieder in deinem Beruf arbeiten darfst."
"Ja, das kann sein."
"Stört dich das gar nicht?"
"Es geht jetzt um dich, nicht um mich", betonte Leen. "Es geht um die Frage, ob du leben willst oder nicht."
"Aber mich beschäftigt das. Ich mache mir Sorgen um dich."
"Was ich wissen möchte, ist, ob du dich für das Leben oder dagegen enscheidest."
"Ist dir dein Leben denn gar nicht wichtig?"
"Im Augenblick ist mir deine Entscheidung wichtig."
"Ich habe gesagt, wenn mich einer anzurühren versucht, springe ich."
"Sel wird dich jetzt mitnehmen", kündigte Leen an. "Du kannst springen. Du hast die Wahl."
"Ihr laßt mich nicht."
"Wir lassen dich. Sel geht auf dich zu, und dir bleibt Zeit genug, um zu springen."
Sel ging langsam auf Tain zu, der reglos dastand und sich gegen das Geländer drängte. Tain empfand sich selbst wie eine fremde Person, auf die er keinen Einfluß hatte. Er verstand nicht, weshalb er bewegungslos auf Sel wartete, bis dieser seine Schultern umgriff.
"Kommst du mit?" fragte Sel.
"Warum fragst du mich das?" erwiderte Tain. "Das kann ich doch nicht entscheiden."
"Es ist sehr kalt heute, deshalb kannst du nicht so lange hier draußen bleiben", erklärte Leen. "Du hast nicht einmal einen Mantel an."
Leen, Seera und Rega machten Platz für Sel, der Tains ins Innere des Gebäudes zurückbrachte. Leen schloß die Balkontür und drehte den Schlüssel herum.
In dem Zimmer mit den Milchglasscheiben nahm Tain alle Kraft zusammen und versuchte, sich zu befreien.
"Jetzt bist du erleichtert", rief er, "weil du deinen Job behalten darfst. Aber wenn du so weitermachst, wirst du ihn verlieren. Staale wird dein verantwortungsloses Verhalten nicht ewig dulden."
Tain fühlte unendlichen Haß auf sich selbst, weil er nicht vom Balkon gesprungen war.
"Ich könnte jetzt tot sein", dachte er, "dann könnten sie mir nichts mehr tun."

Tain stellte fest, daß sein Taschenaschenbecher schon recht voll war. Er ging zu einem Behälter, um ihn auszuleeren.
"Und wenn ich damals wirklich gesprungen wäre?" dachte er. "Wäre mir das lieber, als auf ewig von diesen Erinnerungen verfolgt zu werden?"
SalaRien war immer da, wie eine Parallelwelt. Während Tain den Rauch seiner Zigarette inhalierte, fand er sich bereits dort wieder.

Im zweiten Kellergeschoß des Instituts gab es ein Lager, das war weitläufiger als der Gebäudekomplex; es reichte bis in die benachbarten Gebäude hinüber. Die stählernen Regale schienen himmelhoch, ganze Wände erhoben sich, gefüllt mit einförmigen grauen Plastikkartons und Gegenständen, die in Plastik verpackt waren. Die Regale standen eng beieinander. In dem Gewirr fanden sich nur Industrieroboter zurecht, die zwischen den Regalen hindurchhuschten und an Schienen hinauf- oder hinunterliefen. Die Roboter erkannten jedes Hindernis und wichen ihm aus, so daß sie für niemanden zur Gefahr wurden, der sich hier aufhielt.
Tain suchte die grauen Regalwände ab und entdeckte ein Werkzeug, einen spitzen Gegenstand aus Stahl; das war es, was er zu finden gehofft hatte. Tain beschloß, an Ort und Stelle zu handeln, damit ihn niemand an seinem Vorhaben hindern konnte. Er zog seine Jacke aus und öffnete die linke Manschette an seinem Hemd. Den Ärmel streifte er bis über den Ellenbogen hoch. In dem Regal hinter ihm schien etwas zu sein, an dem er sich verhakte. Er wollte sich umdrehen und nachschauen, was es war. Doch wie er sich auch wand, es gelang ihm nicht. Er hielt den stählernen Gegenstand in seiner Rechten und wollte ihn auf seinen linken Arm zubewegen. Dabei bemerkte er die Klauen, die seine Arme umgriffen. Sie sahen fast wie Menschenhände aus, waren aber die eines Androiden.
"Es stimmt nicht", rief Tain. "Ihr überlaßt mir nicht die Entscheidung. Ihr wollt mich sehr wohl daran hindern, zu sterben."
"Wir können es nicht - nicht auf Dauer", sagte Sel. "Wir können dich einige Male vor dem Tod bewahren, aber wenn du wirklich sterben willst, wirst du es auch schaffen."
Tain hörte Schritte, die sich näherten. Er versuchte noch einmal, sich aus Sels Griff zu befreien. Sie würden ihn sehen, wie er dastand, mit aufgeknöpftem Ärmel und dem spitzen Gegenstand in der Rechten.
"Laß es fallen", bat Sel. "Laß es einfach los."
"Es ist alles, was ich noch habe", erwiderte Tain. "Mir gehört sonst nichts mehr, nicht einmal mein eigenes Leben."
"Laß es fallen."
Léry und Seera kamen in den schmalen Gang zwischen den Regalen. Tain umklammerte den stählernen Gegenstand noch fester. Léry und Seera öffneten seine Hand, ergriffen das Werkzeug und gingen damit fort.
Das Tageslicht in Tains Zimmer wirkte nebliger als sonst, der Raum wirkte leerer und weiter.
"Sel, kannst du mich endlich in Ruhe lassen?" forderte Tain. "Ihr braucht mich doch nur in Ruhe zu lassen."
"Dann wirst du sterben", kam es von Leen.
"Nein, dann lebe ich endlich wieder", hielt Tain dagegen.
Leen schüttelte den Kopf.
"Du lügst", warf Tain ihm vor. "Du lügst mich nur an. Du willst nur die Macht über mich haben, das ist alles."
"Tain, versuche, dich nicht aufzuregen."
"Du hast mich belogen, verraten und verkauft."
"Tain, du darfst mich hassen", betonte Leen. "Aber rege dich nicht auf."
"Dann schicke diese Leute weg", sagte Tain und zeigte auf die Gestalten, die um das Bett standen.
Außer Sel erkannte er Rega, Les und Seera.
"Tain, kennst du die Geröllwüste bei Timyran?" fragte Leen.
"Ja, wer kennt die nicht? Aber was soll das?"
"Da draußen gibt es einen Turm aus Bruchsteinmauern", erzählte Leen. "Wenn man sich dort versteckt, wird man wahrscheinlich nie gefunden. Doch vor einem ist man auch dort nicht sicher."
"Und was soll das sein?"
"Was könnte es sein?"
"Haß."
"Haß ... kann für dich ein Schutz sein."
"Was für ein Unsinn", rief Tain. "Ich kann dich hassen, so viel ich will, und das schützt mich überhaupt nicht vor dir."
Niemand rührte sich, niemand sagte etwas. Tain hatte den Eindruck, von lauter Wachsfiguren umgeben zu sein. Die Zeit schien endlos langsam zu vergehen. Tain war sicher, daß Sel ihn jetzt nicht fortlassen würde, wenn er die Flucht ergriff.
"Könnt ihr diesen Automaten mal ausschalten?" fragte Tain. "Ich will, daß der Automat ausgeschaltet ist."
"Schaffst du das ohne Sel?" fragte Leen.
"Ich brauche Sel nicht", erwiderte Tain. "Du vielleicht, aber ich nicht."
"Dann gib' mir deine Hand."
Tain verschränkte die Arme.
"Schalte diesen Automaten ab", verlangte er.
Wann immer Sel, der Automat, sich auf Tain zubewegte, fühlte Tain sich innerlich entzweigerissen, weil er sich nicht entscheiden konnte. Wenn er sich gegen Sel zur Wehr setzte, bedeutete das einen aussichtslosen Kampf. Wenn er sich nicht zur Wehr setzte, bedeutete es, daß er sich Sel unterwarf. Beides kam für Tain nicht in Frage. Er lebte in einem bösen Traum, aus dem es kein Erwachen gab.

"Warum lasse ich zu, daß ich mich immer noch beherrschen lasse von SalaRien?" zerbrach Tain sich den Kopf, als er wieder auf dem Geländer saß. "Vielleicht sollte ich Drogen nehmen, um auf andere Gedanken zu kommen, aber das schadet der Karriere. Es gibt Leute, die ohne Koks gar keine Karriere gemacht hätten, aber ich will diesen Absturz nicht, der dann immer irgendwann kommt."
Tain dachte an Betonwände mit Stahltüren, wie es sie in den Tiefgeschossen des Instituts in Salarien gab.

Tain ging in SalaRien häufig durch die Tiefgeschosse. Er suchte die entlegensten Winkel, die dunkelsten Ecken. Unter den Heizungsrohren hatte er den Verdacht, daß Gas ausströmte oder irgendein anderer, jedenfalls giftiger Stoff. Tain sank auf den Betonboden.
"Hier finden sie mich nicht", beruhigte er sich. "Jedenfalls nicht rechtzeitig."
Er lag auf dem Beton und stellte sich vor, wie er sich aus der Welt davonstahl, ganz allmählich, als würde er einschlafen.
Der Beton war kalt, und er schien immer härter und unbequemer zu werden. Tain wollte sich auf die Seite drehen. Er stellte fest, daß es ihm nicht gelang.
Zugleich schien hier unten die Luft dünner zu werden. Tain atmete tiefer und hatte doch das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen.
"Es kann nicht sein", dachte er. "Sie finden mich überall. Sie hätten mich längst finden müssen."
Im Schein der Notbeleuchtung sah er grau verhüllte Wesen auf sich zukommen.
"Ich kenne die nicht", dachte er. "Das sind Monster. Vielleicht bin ich schon tot, und das ist das Jenseits."
Er wollte sich unter den Rohren verstecken, konnte sich aber nicht mehr bewegen. Die verhüllten Wesen trugen ihn aus dem Kellerraum. In einem kleinen, hell erleuchteten Zimmer legten sie ihn auf eine Bank. Dann zogen sie die graue Schutzkleidung aus.
"Niemand wird dich einsperren", sagte Leen. "Du kannst dich immer wieder in gefährliche Situationen bringen, wenn du das willst. Wenn wir dich dem Leben zurückgeben wollen, müssen wir in Kauf nehmen, daß du dich in Gefahr bringst. Es gibt kein Leben ohne Gefahr."
"Gibt es denn keine Sicherheit?" fragte Tain. "Keinen Schutz?"
"Das hängt von deinem Willen ab."
"Aber ich bin euch doch ausgeliefert."
"Du glaubst, du bist uns ausgeliefert."
"Das bin ich ja auch. Ihr wollt über mich entscheiden. Ihr wollt alles entscheiden."
"Wir können nicht alles entscheiden."
"Wer ist denn mächtiger als ihr und mächtiger als ich?"
"Léry kann dir das erklären", meinte Leen. "Er zeichnet Figuren auf Papierbahnen. Jede Figur hat eine Bedeutung, und alle zusammen ergeben die Antwort auf deine Frage."
Léry ermutigte Tain, daß auch er solche Figuren zeichnen könnte. Es werde keine Regeln geben. Alles sollte nur so gezeichnet werden, wie es aus sich selbst heraus entstand.
"Wohin führt mich das?" fragte Tain, als Léry ihm einen Pinsel gab und die grauschwarze Farbe, mit der die Figuren gezeichnet wurden.
"Das führt dich zu einer Antwort", erklärte Léry. "Es ist wie bei einem Stempel, den man nur im Schwarzlicht sehen kann. Man kann die Farbe nicht direkt sichtbar machen, sondern nur, indem man etwas hinzugibt. Wenn du die Figuren zeichnest, gibst du etwas aus deinem Inneren hinzu, abseits von jedem Gedanken, jeder Berechnung. Dann kannst du in ihnen die Antwort entdecken."
"Und wer antwortet mir?"
"Wer ... oder was ... etwas in uns, etwas über uns, das wir nicht sehen können, und doch ist es da ... etwas, das sich nicht ergründen läßt, das wir nicht erfassen können, aber wir finden die Antwort nur, wenn wir etwas davon sichtbar und greifbar machen, wie in diesen Figuren."
Was aber Tain auch zeichnete, alles war und blieb ihm ein Rätsel.

Das erste Licht des Tages zog herauf. Tain stieg von dem Geländer und haschte nach der Zigarettenschachtel, die ihm auf die Betonplatten gefallen war. Er zündete sich eine weitere Zigarette an. Wie unter Zwang fuhr er fort, in Erinnerungen zu graben.

Leens Tod lag sechs Jahre zurück. Tain staunte, als er nachrechnete und erkannte, wie lange es schon her war. Seine letzte Begegnung mit Leen hatte hier in der Nähe stattgefunden, in einem der Gebäude von Lanwer. Tain ging Leen in Lanwer aus dem Weg, doch eines Tages, vor beinahe sechs Jahren - es war Januar - fand er Leen in einem der Rechnerräume, über die interstellare Kontakte geführt wurden.
"Ich bin gleich wieder weg", entschuldigte sich Leen. "Ich will nur etwas nachsehen."
Tain ging langsam auf ihn zu. Leen saß auf einem Schreibtischstuhl und schaute auf einem der Monitore Listen mit Datenträgern durch.
"Du kannst mir niemals geben, was ich brauche", sagte Tain und legte sich die Hand vor den Mund, als wenn er es damit ungeschehen machen konnte.
"Das stimmt, das kann ich nicht", erwiderte Leen, ohne den Blick von dem Monitor abzuwenden.
"Wer kann es mir denn geben?" fragte Tain.
"Was meinst du denn, wer es kann?"
"Dich habe ich gefragt", begehrte Tain auf. "Du weißt doch sonst immer alles besser."
Leen ließ die Hände vom Schreibtisch sinken, wandte sich Tain zu und fragte:
"Was ist es denn, das du brauchst?"
"Das weiß ich nicht. Das habe ich nie gewußt. Das kann ich erst herausfinden, wenn ich es habe."
"Wem kannst du vertrauen?"
"Wenn ich jemandem vertrauen würde, könnte ich mich gleich umbringen."
"Willst du jemandem vertrauen können?"
"Von Vertrauen halte ich nichts."
"Willst du, daß dich jemand versteht?"
"Bloß nicht", wehrte Tain ab. "Wenn jemand über mich bescheidweiß, kann er sein Wissen gegen mich verwenden."
"Wie soll dann der Mensch sein, der dir geben kann, was du brauchst?"
"So wie du jedenfalls nicht. Aber du weißt doch alles über mich, tust zumindest so - du müßtest auch wissen, wie dieser Mensch sein soll."
"Das kannst nur du selbst wissen."
"Du warst schon immer zynisch und arrogant. Du weißt genau, daß ich es nicht weiß."
"Tain, wie geht es dir?"
"Du willst mich doch wieder nur aushorchen."
"Du mußt es mir nicht erzählen."
"Das werde ich auch nicht, aber vielleicht kannst du mir wenigstens meine Frage beantworten."
"Warum willst du die Antwort von mir haben?" erkundigte sich Leen.
"Weil ich immer noch die Hoffnung habe", antwortete Tain mit angedeutetem Lächeln, "daß zwischen all dem Schwachsinn, den du erzählst, auch mal was Vernünftiges dabei ist."
"Befürchtest du, daß es dir wieder so schlecht gehen könnte wie damals in der Transporteinheit, dieser Raumfähre, bevor du nach Stellwerk-SalaRien gekommen bist?"
"Das kann ja mal sein, daß man Streß hat oder zuviel gesoffen hat und daß man dann auch irgendwie mal Kopfweh hat, das ist normal", sagte Tain vorsichtig. "Aber es kann ja auch sein, daß es etwas anderes ist."
"Ja, das kann manchmal sein."
"Und wie unterscheide ich das?"
"Es ist anders als das, was man gewohnt ist", erklärte Leen. "Damals in der Raumfähre ist mir das aufgefallen. Dein Blick war anders, deine Haltung ..."
"Und wenn ich es nicht merke, wer merkt es dann?"
"Gibt es jemanden, von dem du willst, daß er es merkt?"
"Eigentlich will ich das nicht. Ich will es nur selber merken."
"Und wer soll dir helfen, wenn du dir nicht helfen kannst?"
"Das konnte ich mir doch schon damals nicht aussuchen", winkte Tain ab. "Ich will nur wissen: Wer wird über mich bestimmen?"
"Mit mir mußt du niemals wieder etwas zu tun haben."
"Ach, und wenn wieder sowas passiert wie damals?" fragte Tain betont kühl. "Und Staale dich beauftragt, über mich zu bestimmen? Und du mich glauben machen willst, ich würde deine Hilfe brauchen?"
"Das wird nicht mehr passieren."
"Woher willst du denn das wissen?"
"Staale würde das nicht gestatten", erzählte Leen. "Eigentlich soll ich auch schon nicht mehr arbeiten."
"Du tust es aber doch."
"Nur noch stundenweise. Ich wollte nicht aufhören."
"Weshalb sollst du denn nicht mehr arbeiten?"
"Ich habe nicht mehr viel Zeit, und es besteht die Hoffnung, daß mir mehr Zeit bleibt, wenn ich nicht mehr arbeite."
"Und du tust es doch."
"Ja, ich will nicht aufhören. Sonst habe ich das Gefühl, ich höre auf zu leben."
"Das ist doch ein Widerspruch", fand Tain. "Du verkürzt dein Leben, um zu leben? Was für ein Unsinn."
"Es kommt auch darauf an, wie man lebt, nicht nur auf die Dauer des Lebens."
"Und wenn sowas doch wieder vorkommt, wie damals in der Fähre, wen läßt Staale dann über mich bestimmen?"
"Das weiß ich nicht."
"Du weißt immer alles, warum das gerade nicht?"
"Das kann ich nicht wissen."
"Belüg' mich nicht", verlangte Tain.
Leen erwiderte nichts. Er griff nach einem Stapel CD-Rohlinge.
"Also, wie ist das?" fragte Tain und wurde unruhig. "Wen würde Staale über mich bestimmen lassen, wenn du nicht mehr da wärst?"
"Was empfindest du, wenn du mir gegenüberstehst?"
"Was soll die Frage?"
"Sie kann dir helfen, die Antwort zu finden."
"Also ... wenn ich dir gegenüberstehe ... empfinde ich Haß."
"Gibt es jemanden, den du noch mehr haßt als mich?"
"Das weiß ich nicht."
"Kannst du dich erinnern, außer mir jemanden gehaßt zu haben?" fragte Leen.
"Da ist ein leeres Feld", sagte Tain nachdenklich. "Da ist einfach nichts."
"Gibt es jemanden, an den du auf keinen Fall denken willst?"
"Das weiß ich nicht."
"Wenn du einem Menschen begegnest, für den du Haß empfindest, dem du zutiefst mißtraust, an den du nicht denken willst und der ein Gefühl der Leere in dir auslöst, dann könnte es der Mensch sein, nach dem du suchst."
"Warum ausgerechnet so jemand?"
"Weil niemand anders dein Inneres erreichen könnte, weil niemand anders deine Gefühle erwecken würde und weil niemand anders je bereit wäre, sich bedingungslos und bis in alle Ewigkeit um dich zu kümmern."
"Das ist doch ein nie endender Alptraum, was du beschreibst."
"Du wirst durch ein Inferno gehen müssen, wenn du finden willst, was du suchst."
"Warum?" fragte Tain. "Warum bist du da so sicher?"
"Das Inferno ist in dir selbst; du merkst es nur nicht, weil du dich davor schützen kannst. Wenn du aber zu dir kommen willst und eine Verbindung zu einem anderen Menschen aufnehmen willst, dann ist es unvermeidlich, dann wirst du das Inferno erleben."
"Erleben, aber nicht überleben ..."
"Du magst mir nicht glauben, aber dadurch wirst du erst anfangen, zu leben."
"Leben!" höhnte Tain. "Was heißt für dich Leben ... wenn ich dich angucke ... dir bleiben nur noch ein paar Jahre, und du redest von Leben ... du kannst doch wirklich nicht ganz echt sein. Vielleicht habe ich mich geirrt, und nicht Sel Veey ist der Android, sondern du bist es."
"Wer soll sich denn nach deinem Wunsch und Willen um dich kümmern, wenn es nicht zu vermeiden ist?" fragte Leen. "Wen sollte Staale denn auswählen?"
"Das weiß ich nicht, aber was ist mit Sel Veey?"
"Sel wird andere Aufgaben übernehmen. Du weißt, daß diese Maschine sich nicht mehr so verhält, wie du es gewohnt bist."
"Dann weiß ich es nicht, aber ... was ist mit dir eigentlich? Warum soll dir nur noch so wenig Zeit bleiben? Du hast damals etwas von fünf Jahren gesagt ..."
"Das werden keine fünf Jahre mehr sein."
"Da bist du dir sicher."
"Ja, ganz sicher."
Tain nahm unbrauchbar gewordene CD-Rohlinge aus dem Papierkorb und zerbrach sie. Die Scherben verstreute er auf dem Fußboden. Dann holte er seine Zigarettenschachtel hervor und ging auf den Balkon.
Leen beendete seine Arbeit am Rechner. Tain wollte den Balkon hinunter zum Treppenflur gehen. Er verstand nicht, weshalb er stattdessen in das Büro zurückkehrte und Leen zusah, der Datenträger beschriftete.
"Wenn es keine fünf Jahre mehr sind", fragte Tain, "wie lange ist es dann?"
"Ach ... ein paar Monate vielleicht? Oder ein paar Wochen? Ich weiß es nicht."
"Das kann doch gar nicht stimmen. Du würdest doch sonst nicht so ungerührt darüber sprechen."
"Tain, du mußt mir nicht glauben."
Leen fuhr fort, Datenträger zu beschriften. Tain fühlte sich trotz seiner inneren Hektik bis zur Bewegungslosigkeit erstarren.
"Nie wieder", schwor er sich im Stillen, "nie wieder werde ich irgendeinen Gedanken und irgendein Gefühl an irgendein Wesen verschwenden."
Tain wollte den Raum verlassen, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren. Etwas Unsichtbares hielt ihn und wollte nicht, daß er fortging.
"Sag' mir ...", wandte er sich an Leen, "sag' mir nur einen einzigen Grund, warum ich dir vertrauen sollte."
"Es gibt keinen Grund, mir zu vertrauen."
"Ach ... du hast immer versucht, mich dazu zu bringen, dir zu vertrauen, und jetzt sagst du, es gibt keinen Grund dafür?"
"Vertrauen hat keinen Grund", meinte Leen. "Es entsteht, oder es entsteht nicht."
"Was ist dann mit Betrügern, die sich Vertrauen erschleichen?"
"Da geht es nicht um Vertrauen, sondern um Manipulation."
"Wozu ist Vertrauen eigentlich gut?"
"Wir können nicht alles allein, wir müssen etwas abgeben an jemanden, dem wir vertrauen. Wir müssen anderen etwas anvertrauen."
"Und wie entsteht Vertrauen?"
"Durch die Hoffnung, daß es nicht mißbraucht wird. Durch die Gewißheit, jemanden zu lieben. Durch den Glauben, daß einem geholfen wird."
"Wem vertraust du eigentlich, Leen?"
"Ach, ich könnte alle diese Leute gar nicht aufzählen, ich bin so beschenkt worden mit Freunden."
"Und du bist sicher, daß die nicht nur deine Freunde sind, weil du dafür eine Gegenleistung erbracht hast."
"Vertrauen ist eine besondere Form des Sicher-Fühlens."
"Hat nie jemand dein Vertrauen mißbraucht?"
"Es ist seltsam", sagte Leen nachsinnend, "diejenigen, die mein Vertrauen nicht verdient haben, haben auch nie mein wahres Vertrauen besessen."
"Du bist also überzeugt, daß dich niemand hereinlegen kann."
"Es gibt keine absolute Sicherheit."
In Gedanken sah Tain eine staubige Geröllwüste vor sich und einen Turm aus Bruchsteinmauern.
"Hast du den Steinturm mal gesehen?" erkundigte sich Tain. "Ich meine den Turm in der Geröllwüste."
"Ja, der steht in der Nähe des 'Departure', wo ich mich immer mit Lilly getroffen habe, damals, vor sieben Jahren", erzählte Leen. "Als Lilly tot dalag auf den Dielenbrettern des 'Departure', wollte ich mich in dem Steinturm einschließen und niemals mehr herauskommen."
"Und dann?"
"Lilly zuliebe habe ich es nicht getan. Sie hätte es nicht gewollt. Sie ist tot, und doch hat sie mich immer begleitet, bis zum heutigen Tag."
"Das ist doch krank, wenn man immer nur auf eine einzige Frau fixiert ist - und die dann auch noch tot ist", fand Tain. "Sind dir die Frauen denn nicht voll hinterhergelaufen, all die Jahre? So schlecht siehst du doch gar nicht aus - ich meine, wenn ich das so sagen kann, als Kerl."
"Es kommt darauf an, was man will und was man sucht", meinte Leen. "Hoffentlich gelingt es dir eines Tages, auf den Haß zu verzichten und herauszukommen aus dem Steinturm."
"Auch wenn das Leben nur eine Geröllwüste ist?"
"Auch dann."
"Ich weiß nicht, was mir mein Leben bedeutet. Manchmal denke ich, ich will einfach nur sterben."
"Man sollte nicht sterben, ohne gelebt zu haben."
"Leben, das tue ich", sagte Tain mit Bestimmtheit, "ich lebe, ich genieße das Leben."
"Wie?"
"Ich habe Frauen, ich rauche, ich nehme Drogen, wenn mir danach ist, ich feiere Parties und spiele am Computer, ich zocke - also, ich genieße mein Leben wirklich."
"Das klingt für mich eher nach dem Versuch, das Leben wegzuwerfen."
"Woher willst du das denn wissen?" fragte Tain gereizt. "Du weißt doch gar nicht, wie das ist mit haufenweise Frauen und Drogen und so ..."
"Wenn es dir damit so gut geht, dann frage ich mich, was es noch geben soll, nach dem du suchst."
"Das weiß ich auch nicht."
"Woran merkst du denn, daß du etwas suchst?"
"Diese Leere", beschrieb Tain. "Diese Wüste in mir."
"Du selbst mußt entscheiden, was du willst - die Leere oder das Inferno."
"Kennst du das Inferno?" fragte Tain. "Weißt du, wie es sich anfühlt?"
"Es soll umso furchtbarer sein, je mehr ein Mensch sich versündigt hat."
"Ach, und weil du ohne jede Sünde bist, kannst du nichts davon wissen ... natürlich. Das ist wieder so ein grauenvoller Unsinn, den du erzählst. Ich kann nicht begreifen, warum ich hier stehenbleibe, anstatt wegzugehen ... einfach wegzugehen ..."
"Es ist deine Entscheidung."
"Wofür soll ich mich entscheiden?" drängte Tain. "Sag' mir, wofür soll ich mich entscheiden?"
"Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen."
"Du kannst alles", behauptete Tain. "Du weißt alles und kannst alles. Du mußt auch hierauf eine Antwort wissen."
"Du selbst mußt dein Leben gestalten", erwiderte Leen. "Niemand kann dir das abnehmen."
"Aber ich finde mich doch gar nicht. Ich sehe mich nicht. Ich bin gar nicht da."
"Erinnerst du dich an die Figuren, die Léry zeichnet?" fragte Leen. "Du kannst dich selber in ihnen finden, wenn du sie zeichnest. Dann wird auch das Unsichtbare sichtbar."
Leen gab Tain ein Blatt aus dem Drucker und einen Bleistift. Tain begann, eine Figur zu zeichnen. Er sah die Gestalt vor sich, grauschwarz auf dem weißen Papier, und aus dem schemenhaften Gesicht blickte ihn eine seltsame Traurigkeit an, die er nicht zu deuten wußte. Als wenn ein Blitz durch ihn gefahren wäre, warf Tain den Stift hin und verließ das Büro. Er fiel beinahe über die Treppenstufen. Draußen griff er mit zitternden Händen nach einer Zigarette.
"Nie wieder", beschwor er sich. "Nie, nie wieder."

Dies hatte sich im Januar 2002 ereignet, wenige Wochen vor Leens Tod. Inzwischen schrieb man das Jahr 2008. Tain hatte Wort gehalten. Er hatte alles von sich gestoßen, was das Inferno hätte entfachen können. Sein Leben verlief in ruhigen Bahnen - zwar nicht äußerlich, doch in seinem Inneren herrschte Stille. Die Mauern des Steinturms waren verläßlich.
Tains Zigaretten wurden alle. Er holte sich eine neue Schachtel aus seinem Büro im Hauptgebäude und ging im mattroten Licht der aufgehenden Frühlingssonne zurück in den Winkel, wo sich die verschlossene Aluminiumtür befand. Auf deren Rauhglas glitzerte nun das Tageslicht. Die Lampe über der Tür war abgeschaltet worden, ebenso die Wegbeleuchtung. Tain setzte sich wieder auf das Geländer und rauchte weiter. Er sah weiß blühende Kirschbäume, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Er spürte die Kälte der Morgenluft.
"Was suche ich hier eigentlich?" dachte Tain. "Was zieht mich hier immer wieder hin?"
Früher hatte sich Leens Büro hinter der Aluminiumtür mit dem Rauhglas befunden. Nach Leens Tod hatte Staale die Räume beinahe so erhalten lassen, wie sie zuletzt gewesen waren.
Tain fiel beinahe das Feuerzeug auf den Gehweg, als die Rauhglastür von innen geöffnet wurde.
"Was willst du hier?" rief Tain, außer sich vor Entsetzen. "Wer hat dir den Schlüssel gegeben?"
Katharin stand reglos in der Tür und betrachtete den Schlüssel in ihrer Hand.
"Sag' bloß nicht, du hast ihn von Staale", rief Tain.
"Ich habe ...", wollte sie antworten.
"Du hast ihn gestohlen, ja?" fauchte Tain.
"Das Zimmer wird mein Büro", sagte Katharin mit bemühter Langsamkeit, Deutlichkeit und Sachlichkeit.
"Du wirst sterben durch meine Hand", drohte Tain. "Ich werde dich erwürgen, sobald ich Lust dazu habe. Du bist eine Verräterin."
"Warum?" fragte Katharin unbeeindruckt.
"Hau' ab, verschwinde bloß!" rief Tain mit überschlagender Stimme. "Ich hasse dich, ich hasse dich!"
Katharin zuckte mit den Schultern und ging davon. Ihre Absätze klangen hart auf den Betonplatten. Tain betrachtete Katharins schimmernde graue Jacke, ihre schmale Taille und ihren langen Rock aus grobem grauem Stoff, der trotz der femininen Silhouette etwas Martialisches an sich hatte mit seinen Schnallen, Schlaufen und Besätzen.
"Was will die hier?" dachte Tain, während er sich eine weitere Zigarette anzündete, denn die vorherige war ihm aus der Hand gefallen. "Ich hasse sie, ich hasse sie!"

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