Betonwelt

P.A.L - "Concrete Rage"


April 2008. Heimat zwischen Baustellen und Ruinen.

Tain beschloß, mit Staale bei einer Tasse Kaffee ein ernstes Wort zu reden.
"Wer ist da jetzt in Leens Büro?" fragte er und tat, als wüßte er es nicht.
"Ach ... ich dachte, daß Katharin dir davon schon erzählt hat", entgegnete Staale. "Sie hat das Büro jetzt."
"Staale, du darfst die nicht in Leens Büro lassen."
"Warum nicht?"
"Die ist ... die ist irre."
"Warum?"
"Die hat das nicht verdient. Die gehört da nicht hin. Die entweiht dieses ..."
"Warum?"
"Ich weiß auch nicht ... Katharin redet immer so ... irre. Jedenfalls darf die da nicht 'rein."
"Tain, ich habe manchmal ein bißchen Angst um dich."
"Um mich?" schreckte er auf.
"Tain, ich bitte dich, denke nicht über Dinge nach, die dich um den Schlaf bringen. Es ist alles in Ordnung. Nichts wird sich für dich ändern, nichts. Katharin hat doch ein ganz anderes Aufgabenfeld als du. Ihr werdet euch kaum begegnen."
"Du hast mit ihr über mich geredet, hast du?"
"Tain, bitte rege dich nicht auf, bitte."
Staale saß still da und blickte Tain in die Augen, immer hoffend, daß Tain sich beruhigte.
"Ich gehe rauchen", sagte Tain schließlich und lief nach draußen. "Entschuldige mich ..."

-   -   -


Katharin machte Espresso und setzte sich zu Staale an den Tisch in der Kaffeeküche.
"Erinnerst du dich, wie wir damals immer frühmorgens in der Küche Kaffee getrunken haben, in der Wohnung am Kanal?" fragte er.
"Das ist fünfundzwanzig Jahre her", ergänzte sie. "Damals sah ich meinen Tod vor Augen. Ich habe geglaubt, daß mit achtzehn das Leben so gut wie vorbei ist."
"Und, ist es das?"
Katharin lächelte.
"Aha", sagte Staale.
"Was?" fragte Katharin.
"So ein Lächeln kenne ich nur von Menschen, die glücklich verliebt sind."
"Also, dann bin ich glücklich, ohne es zu wissen", schloß Katharin. "Na - immer noch besser, als wenn man glaubt, glücklich zu sein, und es nicht ist."
"Da gibt es jemanden, der dich furchtbar liebt."
"Ja."
"Er merkt es aber nicht."
"Ja."
"Weil er voller Haß ist."
"Das ist seine Art, sich alles von Hals zu halten, was irgendwie mit Leid und Tränen verbunden ist."
"Es mußte sein."
"Was?"
"Es mußte sein, was ich getan habe ... ich meine, daß du Leens Büro übernommen hast", erklärte Staale. "Tain ist ein Schatten seiner selbst. Überall sieht er Feinde und Gefahren lauern, überall wittert er Angriffe, die auf ihn einstürzen. Wenn er nicht aus dem Steinturm herauskommt, wird das System implodieren."
"Der Steinturm?"
"Diesen Turm gibt es wirklich. Leen hat mir davon erzählt. Der Turm steht in einer Geröllwüste auf Saroud. Für Leen hatte der Steinturm die Bedeutung einer Zuflucht, die einem zum Verhängnis werden kann, wenn man nicht rechtzeitig wieder herauskommt."
"Tain wird mir ausweichen, wo er nur kann", vermutete Katharin. "Ich will mir keine Illusionen machen. Ich hoffe nur, daß er irgendwann von selbst auf mich zugeht, vielleicht sogar meine Hilfe sucht."
"Es kann sein, daß er dich angreift, wenn er deine Hilfe sucht."
"Wahrscheinlich, um zu verschleiern, daß er meine Hilfe sucht", setzte Katharin hinzu.

-   -   -


Katharin ging seit der Kindheit lieber durch Keller und Tunnel als durch belebte Flure und Promenaden. So hielt sie es auch, als sie wegen eines Gutachtens in einem erst vor Kurzem fertiggestellten Gebäudetrakt von Rhohausen zu tun hatte. Sie bog aus einem Straßentunnel ab in einen Seitentunnel, der zu einem mehrstöckigen unterirdischen Parkhaus führte. Dort parkte sie den Wagen im untersten Stockwerk. Das Parkhaus war zeitgleich mit dem Gebäudetrakt eröffnet worden. Überall sah Katharin hellgrauen Beton um sich. Sogar die Geländer waren aus Beton.
"Das ist herrlich", seufzte sie und zog ihre Kamera hervor.
Nach dem Gutachten-Termin bummelte Katharin noch ein wenig durch die Betonflure im dritten Kellergeschoß, in der Hand eine Tüte mit Figuren aus Kirschfruchtgummi und Colafruchtgummi. Ein Flur war besonders lang, fast einen halben Kilometer. Die Strahler, die ihn erhellten, bildeten feine Lichtstreifen auf den Betonwänden.
"Herrlich", seufzte Katharin wieder.
Es gab Bänke in dem Flur, in Nischen verborgen. Katharin hielt inne, als sie in einer der Nischen jemanden sitzen sah, umhüllt von einem langen, weiten schwarzen Mantel.
"Halt - weg", wehrte Tain sie mit beiden Händen ab, als sie sich ihm näherte.
"Was machst du hier?" fragte Katharin.
"Ich fotografiere nun einmal gerne Beton, Industrie, Ruinen, Abrißhäuser ... und ..."
"Du auch!"
"... und blühende Kirschbäume."
"Du auch!"
"Aber mit einer digitalen Spiegelreflexkamera. Und ..."
Er zünderte sich eine Zigarette an.
"... ohne dich!" fuhr er fort.
"Ich arbeite mit einer analogen Spiegelreflexkamera."
"Da sind mir die Abzüge zu teuer, außerdem machen die Profis das fast alle nur noch digital", wußte Tain. "So, und jetzt verschwinde!"
"Gern, aber du tust mir bitte einen Gefallen und hörst auf zu rauchen."
"Wieso? Wir sind doch hier nicht wirklich irgendwo drinnen?"
"Abgesehen davon, daß wir uns sehr wohl im Inneren eines Gebäudes befinden, geht es mir weit mehr um dich als um diesen Flur."
"Wie?"
"Du wirst dich mit den Zigaretten umbringen, wenn du so weitermachst."
"Das wäre nicht das Schlechteste. Ein früher Tod macht mich früher unsterblich."
"Hast du mal jemanden gesehen, der an Lungenkrebs gestorben ist?" fragte Katharin. "Ich ja. Und nicht nur einen."
"Wenn ich Lungenkrebs kriege, bringe ich mich um."
"Du scheinst wirklich nicht sehr am Leben zu hängen."
"Mein Leben wird nicht lange dauern, dafür sorge ich."
"Warum bedeutet dir dein Leben so wenig, Tain?"
"Weil ich in diesem Leben sowieso niemals bekommen werde, was ich brauche."
"Was brauchst du denn?"
"Bestimmt nicht sowas wie dich. Du kannst mir niemals geben, was ich brauche."
"Alles kann ich dir geben. Dafür bin ich auf der Welt."
"Ach, du kannst mir alles geben?" fragte Tain höhnisch. "Dann kannst du gleich meine Hemden bügeln."
"Dir alles zu geben, was du brauchst, bedeutet nicht, alles zu tun, was du verlangst."
"Wieso, das ist doch genau dasselbe."
"Es ist eines, dem Trinker Wodka zu kaufen, und es ist ein anderes, dem Trinker zu einer Entwöhnung zu verhelfen", meinte Katharin. "Es ist eines, dir jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und es ist ein anderes, dir ein wirklicher Halt, eine wirkliche Stütze zu sein, ein echtes Gegenüber."
"Ich brauche aber jemanden, der alles tut, was ich will. Ich brauche kein echtes Gegenüber. Ich brauche eine Frau, die devot ist."
"Davon hast du doch schon jede Menge gehabt."
"Aber keine, die devot genug war."
"Wieso, die haben doch alles getan, was du wolltest."
"Haben sie nicht", widersprach Tain. "Denn die Leere in meinem Inneren ist immer noch da."
"Die wird nicht davon weggehen, daß dir immer nur alle Wünsche erfüllt werden. Der Trinker kann auch so viel Wodka trinken, wie er will, er bekommt nie genug, bis zum Tod nicht. Die Mädchen sind für dich das, was für den Trinker die Flasche ist. Du findest bei ihnen nur eine scheinbare Erfüllung, weil du sie nicht liebst, sondern ausbeutest."
"Ich liebe alle!" rief Tain. "Alle!"
"Liebe und Sucht sind zwei verschiedene Dinge. Man sollte sie nicht miteinander verwechseln."
"Dich liebe ich nicht", sagte Tain mit Nachdruck. "Ich brauche dich nicht. Ich habe keine Verwendung für dich."
"Ich liebe dich."
"Warum erniedrigst du dich?" fragte Tain mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht. "Sei doch mal gut zu dir."
"Das bin ich, und nur das."
"Suche dir endlich einen anderen."
"Bisher ist mir keiner begegnet, für den ich auch nur annähernd so empfunden habe wie für dich", erklärte Katharin. "Und ich gehe viel unter Menschen. Ich kann aber nicht die gesamte Milliarde heiratsfähiger Männer kennenlernen, das geht aus logistischen Gründen nicht."
"Du kannst dir aber schon vorstellen, daß da noch jemand anders infrage kommt."
"Ich weiß es nicht. Die Wahrscheinlichkeit halte ich für sehr gering. Wenn man einmal bei einem Menschen dieses Gefühl hatte:
'Hier bin ich, hier bleibe ich, und hier gehe ich nie mehr weg.'
- wenn man einmal das Gefühl hatte, angekommen zu sein, genau das gefunden zu haben, was man immer gesucht hat, endlich das passende Puzzleteilchen gefunden zu haben ..."
"Und das Gefühl hattest du bei mir."
"Ja, das Gefühl habe ich bei dir. Und wenn man das einmal erlebt hat, dann ist es wenig wahrscheinlich, daß man etwas erlebt, das noch mehr ist als alles."
"Mehr als alles gibt es doch gar nicht."
"Eben."
"Ich will dich aber nicht."
"Das ändert an dem Gefühl nichts."
"Greif' doch endlich mal zu", sagte Tain beschwörend, "und nimm' dir irgendeinen Kerl. Wirf' endlich diese lästigen Gefühle weg, kümmere dich nicht mehr um sie."
"Liebe kann man nicht vernichten, man kann sie höchstens verleugnen."
"Ich kann sie vernichten, wenn ich das will. Ich entscheide, wen ich liebe und wann ich damit wieder aufhöre."
"Ich bezweifle, daß wir dasselbe meinen, wenn wir von 'Liebe' reden."
"Was du unter 'Liebe' verstehst, das ist doch nur krank. Es hält dich davon ab, zu leben und deinen Spaß zu haben. Mensch, da laufen so viele Kerle 'rum, die auf dich stehen. Staale auch, der steht voll auf dich und ist sogar Witwer, den kannst du jederzeit heiraten!"
"Für mich gehört etwas mehr dazu, als daß nur jemand auf mich steht."
"Vergiß die Gefühle! Sie hindern dich am Glücklichsein."
"Ohne Gefühle kann man Glück gar nicht empfinden."
"Das kann doch nicht sein ... Das kann doch nicht sein, daß ich für dich der Einzige bin."
"Wahrscheinlich ist es so", meinte Katharin. "Aber was kümmert dich das? Du bist mir gegenüber zu nichts verpflichtet."
"Du tust mir leid, irgendwie."
"Kümmere dich lieber um dich selber - um deine Gesundheit, um deine Seele."
"Ach, das Fegefeuer ... Ja, das muß natürlich jetzt auch ... sowas hat Leen schon immer gesagt ... die sündigen Seelen müssen ins Inferno ... also, diesen Schwachsinn brauche ich mir wirklich nicht ..."
Tain warf seine Zigarette weg, stand auf und zog sich den Mantel fest um die Schultern.
"Ich will, daß du überlebst", sagte Katharin eindringlich. "Du wirst dich töten, wenn du nicht aufhörst zu rauchen."
"Ha! Mit Zigaretten bringt man sich doch nicht um. Die sind doch nur da, um das Leben zu genießen. Du bringst mich um, du!"
"Nein, die Zigaretten werden dich umbringen."
"Und wenn! Dann nervst du mich wenigstens nicht mehr."

-   -   -


Katharins Schwester Constri stand neben DJ Clint im "Mute" und mischte Videoclips, die an die Großleinwand gebeamt wurden. Sie drehte immer neue experimentelle Sequenzen für das VJ-Programm, meist Aufnahmen von Industrieanlagen und Ruinen, romantisch-verklärte Stimmungsbilder, verfremdet und ineinander zerfließend. Fast immer waren es fraktale Motive. Als feenhafte Gestalt wandelte Constri hundertfach durch die Sintergärten oder durch blaugrün schimmerndes Wasser. Auch die lichtdurchfluteten Motive aus dem Film "Endless Loop" fanden sich in dem Programm; die mit Kreide geschriebenen Worte des Requiems liefen über sie hinweg, auf Lateinisch und auf Deutsch.







Tain hielt sich nicht damit auf, sich zu wundern. Er ging zu Constri hinters Pult und begrüßte sie überschwenglich. Constri berichtete Katharin später, daß Tain sich von dem VJing fasziniert zeigte und sie bat, auf jeden Fall damit weiterzumachen. Zu einigen Bekannten, die sich ebenfalls am DJ-Pult einfanden, sagte er:
"Guck', das ist Constri, Katharins Schwester, die ist hier VJ und macht das voll genial!"
Clint spielte zwei Titel, die Katharin sich gewünscht hatte, "Lost" von Rotersand und "Terror against" von Punch Inc. Hinreißend fand Katharin auch das entfesselte "- 28 °C and falling" von Iszoloscope und das schräge "Riot green Elves" von Winterkälte: über einen schweren, gabbaähnlichen Rhythmus mit abgründigen Bässen legten sich Sounds, die sich so ähnlich anhörten wie das durchdringende Kreischen eines Zuges in einer Kurve.
Die Rhythmen konnten einen verwandeln, in etwas, das sich irgendwo zwischen Mensch und Maschine befand. Man konnte sich verlassen, sich von außen betrachten, und war doch mehr in sich selbst als sonst.
"He, die Industrial-Ballerina!" rief Tron, ein IT-Fachmann, der eine ausgefranste Weste über dem bloßen Oberkörper trug, so daß man seine Tätowierungen im Celtic-Dekor gut sehen konnte.
Im Vorbeigehen kraulte Tron die Schnürung von Katharins Korsett. Es war ein schimmerndes Korsett in einem graulila Rankenmuster. Dazu trug Katharin ein Halsband mit Straßanhängern - Kreuz, Herz und Anker -, Puffärmel aus schwarzem Lackstoff, lange schwarze Handschuhe und einen langen, weiten Rock aus mehreren Lagen Tüll, schwarz, mit schwarzen Satinbändern besetzt. Ihre Ballerina-Schuhe wurden mit Bändern gehalten, so daß sie Ballettschuhen ähnelten. Im zurückgebundenen Haar trug Katharin ein Haarteil, aus dem viele Kordelzöpfchen weit über die Schultern hingen. Es hatte ihre Haarfarbe, dunkelblond.
Tain stand immer noch oben bei Clint. Er ließ sich von ihm das DJ-Pult erklären. Durch das Auflegen konnte Tain die Zeit, die er am Wochenende in der Discothek verbrachte, abwechslungsreicher gestalten. Außerdem - wenn er hier oben stand, brauchte er keine Freundin, die er vorzeigen konnte. Er herrschte auf jeden Fall, er war auf jeden Fall wichtig.
Tain betrachtete Katharin, drehte sich weg, betrachtete sie wieder, löste sich mit einem Ruck von ihr und lieh sich eine Brille aus, die Clint im Februar in der Karnevalsabteilung gekauft hatte. Die Brille hatte spiegelnde Gläser und war pink und schwarz gemustert. Clint hielt sich mit dieser Brille für besonders cool, gerade weil sie so albern war. Für Tain bedeutete die Spiegelbrille einen besonderen Schutz: er konnte anschauen, wen er wollte, auch Katharin, und niemand merkte es.

-   -   -


Drei Wochen waren vergangen. Katharins Kollege Sylvain rief an und bat Katharin, zu ihm hinaufzukommen.
"Das mußt du dir ansehen", sagte Sylvain. "Setz' dich."
Er zeigte eine Videoaufnahme vom gestrigen Tag. Durch eine Überwachungskamera konnte man Tain und Aimée beobachten. Katharin kannte Aimée. Tain hatte mit Aimée seit zwei Wochen ein Verhältnis. Sie war achtzehn Jahre alt und schien sich durch die Beziehung mit dem mehr als doppelt so alten Tain regelrecht geadelt zu fühlen. Sie trug die Kleider und die Frisuren, die Tain an ihr sehen wollte, und führte in Discotheken wie dem "Mute" und dem "Fractal" ausgiebig vor, daß sie Tains neue Freundin war und damit etwas Besseres und Besonderes.
In der Filmsequenz jedoch, die Sylvain vorführte, wirkte Aimée alles andere als siegessicher und überheblich. Ihre schwarz gefärbten Haare waren zerzaust, ein hellrosa Hemdchen mit Spaghettiträgern hing formlos an ihrem mageren Körper, und ihre Wimperntusche war durch Tränen verwischt.
Tain packte Aimée bei den Armen und schüttelte sie.
"Du sollst endlich Gefühle für mich haben", rief er, "hab' endlich Gefühle für mich! Du bist so leer, so völlig leer."
Aimée wand sich in Tains Griff und schluchzte.
"Das reicht", sagte Sylvain und schaltete das Video ab, auf dem ein mehrstündiger Streit von Tain und Aimée mitgeschnitten war.
"Daher hat Aimée die blauen Flecken", staunte Katharin. "Wir haben uns gestern nacht schon im 'Mute' gefragt, was Tain mit ihr gemacht hat."
"Tain wußte, daß die Kamera läuft", erklärte Sylvain. "Der Streit fand in seinem Arbeitszimmer statt, und das wird überwacht, weil dort mit sensiblen Daten umgegangen wird. An diesem Tag hat Tain sich um die Kamera nicht gekümmert, er hat auch nicht hineingewunken, was er sonst gerne tut. Es war, als hätte er sie bewußt übersehen oder einfach vergessen."
"Natürlich hat Aimée keine Gefühle für Tain", deutete Katharin. "Er kann noch so sehr danach suchen, er kann sie von ihr einfordern, aber er wird sie nicht finden. Er hat Aimée ausgesucht, weil sie ihn anhimmelt, nicht weil sie ihn liebt. Er ist bei ihr sicher vor großen Gefühlen, das ist ihm wichtig, aber natürlich kann er von ihr dann auch keine großen Gefühle erwarten."
Sylvain zeigte eine weitere Filmsequenz, die einige Wochen vorher aufgenommen worden war, in einem anderen Sicherheitsbereich in Lanwer. Aimée hatte Tain besuchen wollen, war aber auf Sylvain gestoßen, der ihr zu verstehen geben wollte, daß Tain ihr vielleicht nicht treu sein werde. Aimée wußte schon, daß Tain alle seine bisherigen Freundinnen und Liebschaften betrogen hatte, fühlte sich dadurch jedoch nicht abgeschreckt.
"Nein, bei mir ist das anders", sagte sie voller Überzeugung.
"So, auch sie hat er davon überzeugt, daß sie seine wahre Auserwählte ist, seine große Liebe", kommentierte Sylvain. "Er macht das immer so - er redet jedem Mädchen ein, daß er verzweifelt nach der wahren Liebe gesucht hat, und nun endlich, nach langen Irrwegen, hat er sie angeblich gefunden. Damit erreicht er, daß jedes Mädchen glaubt, ihre Vorgängerinnen seien nur ein Irrtum gewesen, sie selbst aber, sie sei diejenige, der Tain nun endlich treu ist und die er bis in alle Ewigkeit liebt. Und er redet dem Mädchen ein, außer ihm würde sie im Leben nichts mehr brauchen, er würde ihr alles geben. Wenn sie sich darauf verläßt und er sie isoliert und von sich abhängig gemacht hat, kann er sie nach Belieben quälen, demütigen, erpressen und nötigen."
"Wenn ich an diese labilen, naiven Geschöpfe denke, muß ich befürchten, daß Tain sie durch seine sadistischen Spielchen in den Selbstmord treiben könnte."
"Das ist gar nicht abwegig", bestätigte Sylvain. "Bei einem Mädchen - Darienne - hat er es fast geschafft. Sie hat nur überlebt, weil der Strick gerissen ist."
"Im 'Mute' hat mir jemand erzählt, daß Tain schon mehrere Freundinnen geschlagen haben soll."
"Und getreten. Einer seiner ehemaligen Verlobten - ich glaube, das war die, die er gleich nach der Trennung von Berenice hatte - hat er zweimal dieselbe Rippe gebrochen. Eine andere hat er mit dem Kopf gegen eine Wand geschleudert, und wegen der Hirnblutung sitzt diese Frau seither im Rollstuhl. Lara heißt sie. Inzwischen ist sie verheiratet und hat zwei Kinder."
"Haben die Frauen ihn nie angezeigt?"
"Tain sucht sich nur labile, selbstunsichere Freundinnen aus. Wenn er sie mißhandelt, redet er ihnen ein, daß sie selbst daran schuld sind, weil sie ihn angeblich provoziert haben. Sie verschweigen schamhaft, was er ihnen angetan hat; erst in neuester Zeit konnte einige von ihnen darüber sprechen."
"Und Lara, wie hat die damals im Krankenhaus ihre Kopfverletzung erklärt?"
"Sie hat erzählt, daß es ein Unfall war."
"Eins verstehe ich nicht ... Tain ist ein Untergebener von Staale. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Staale ihn weiterbeschäftigt, wenn er derartige Verbrechen begeht."
"Wenn Tain nicht auf seinem Weg umkehrt, ehe er noch mehr Schaden anrichtet, soll es eine Entscheidung geben."
"Das würde für Tain den Tod bedeuten."
"Wenn Tain so weitermacht, wird das für andere Menschen den Tod bedeuten."
"Dann muß ich Tain das Handwerk legen", folgerte Katharin. "Er muß all seine Aggressionen auf mich richten, dann sind diese hilflosen Mädchen vor ihm sicher. Mir kann Tain nichts anhaben. Durch jede Begegnung mit ihm werde ich nur stärker, ganz gleich, wie er sich verhält."

-   -   -


Staale beschloß, daß Tain sich die Filmsequenz anschauen sollte, in der er Aimée mißhandelte, und zwar ohne darauf vorbereitet worden zu sein. Sylvain arrangierte die Vorführung, als Tain abends vor seinem Panorama-Monitor saß und brutale Computerspiele spielte. Tain war gerade damit beschäftigt, junge hübsche Frauen zu erschießen, die ihm auf der Straße begegneten, da erschien auf einmal jene Sequenz, in der er Aimée schüttelte und anschrie.
Am nächsten Morgen kam Sylvain zu Tain ins Büro und erklärte:
"Es geht um dein Verhalten."
"Was soll das mit dem Überwachungsvideo?" schnappte Tain. "Sind wir jetzt bei George Orwell?"
"Wo du den ansprichst - da habe ich ein schönes Zitat von ihm:
'Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen.'"
"Du hast mir überhaupt nichts zu erzählen", entgegnete Tain scharf. "Und ich empfehle dir, hier sofort zu verschwinden, sonst könnte es unangenehm für dich werden."

-   -   -


Katharin sah Aimée immer noch in Discotheken; nun aber trug Aimée eine BDM-Uniform und wurde begleitet von einem vorbestraften Rechtsradikalen. Gemeinsam mit ihrem neuen Freund versuchte sie, so arrogant wie möglich zu gucken.
"Sie sucht sich wohl immer den aus, den sie für den Stärksten hält", sagte Katharin zu ihrer Freundin Granya.
"Na, mit rechtsradikalem Gedankengut kann Tain bisher nicht aufwarten", meinte Granya. "Noch nicht ..."
"Dieser neue Kerl von Aimée ist doch vorbestraft ... für was eigentlich?"
"Frauen schlagen ... und illegales Verticken von Foltervideos."
"Was?"
"Ja, sowas gibt's doch öfter. Der hat beste Kontakte zu Folterlagern in den entsprechenden Ländern ..."
"Der nennt sich doch 'Thor' oder so ähnlich?"
"Ja, aber in Wirklichkeit heißt der nicht Thor. Er heißt Gangolf."
"Gangolf Manthey?"
"He, schrei nicht so laut, er könnte es hören."
"Ein paar Spießgesellen von dem habe ich mal in den Knast gebracht, nur ihn hatte man damals noch nicht greifen können", wisperte Katharin unter der Last der Erinnerungen. "Und ... hat der jetzt endlich gesessen?"
"Oh, das hat der! Vier Jährchen mußte der absitzen ..."
"Und seine Domina ... ich meine, seine frühere Verlobte?"
"Wer war das denn?"
"Die hieß Runi. Runi Rutt."
"Die ist aus dem Fenster gesprungen", wußte Granya. "Tot. Die war voll unter Drogen."
"Wahnsinn ... Runi tot ... Manthey im Knast ... wenn ich darüber nachdenke ... es gibt da noch jemanden, der eigentlich in den Knast gehört."
"Und wer?"
"Guck' nach oben, da steht er bei Clint am DJ-Pult."
"Was - Tain?"
"Schwere Körperverletzung in mehreren Fällen. Aber die Frauen, die er mißhandelt hat, haben ihn nie angezeigt, deshalb wird er nicht hinter Gitter wandern."
"Da wird einem doch schlecht, oder?" stöhnte Granya. "Wenn so einer frei herumläuft?"
"Kennst du das Märchen 'Das kalte Herz'? Da hat ein geltungssüchtiger junger Mann seine Seele an den Bösen verkauft. Er lebt ganz gut ohne Gefühle, langweilt sich aber schließlich, weil er für nichts mehr Begeisterung empfinden kann ... und um sich die Zeit zu vertreiben, beschäftigt er sich damit, immer reicher und reicher zu werden. Skrupellos nimmt er arme Leute aus, hetzt die Hunde auf sie und erschlägt am Ende die eigene Frau, weil sie einem Bettler Wein zu trinken gibt. Erst da wacht das einzige Gefühl auf, das ihm geblieben ist, nämlich die Angst ..."
"Du willst doch nicht sagen, daß du für Tain noch irgendetwas empfindest?"
"Liebe ist jenseits von Gut und Böse, das sagt auch das Märchen."
"Tain kann dich genauso mißhandeln, wie er diese Frauen mißhandelt."
"Tain ist gewalttätig, berechnend, bösartig, das reinste Gift", nickte Katharin. "Aber es gibt hochgiftige Stoffe, die helfen können, ein anderes Gift unschädlich zu machen."
"Bist du denn vergiftet?" fragte Granya.
"Man kann auch seelisch vergiftet werden, nicht nur körperlich", versuchte Katharin die Zusammenhänge verständlich zu machen. "Und es kann sein, daß die Begegnung mit einem bestimmten Menschen dazu führt, daß das Gift seine Wirkung verliert. Ungefähr so ist das bei mir und Tain. Anderen Menschen nimmt er die Lebenskraft, er entfremdet sie sich selbst, er vereinnahmt sie und beutet sie seelisch aus. Ich hole mir Energie von ihm, komme durch die Begegnung mit ihm mir selbst immer näher, werde immer selbstsicherer und verschenke etwas, anstatt mir etwas wegnehmen zu lassen."
"Auch wenn er sich so abartig benimmt?"
"Ja, und das ist etwas, das ich nicht verstehe. Tains Haß berührt mich nicht. Ich fühle mich nicht angegriffen davon. Vielleicht werde ich das nie verstehen."
"Tain ist gewalttätig. Was ist, wenn es noch mehr Opfer gibt?"
"Das zu verhindern, darin sehe ich meine Aufgabe, gerade weil er mir nichts anhaben kann."
"Warum gerade dir nicht?"
"Darüber habe ich lange nachgedacht, und ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die ihre Erfahrungen mit Tain gemacht haben", erzählte Katharin. "Wie sich herausgestellt hat, ist es offenbar so, daß eine Form der Gewalt, eine - wohl auch die einzige - von Tain nie verübt wurde: Grenzüberschreitung - in Form von Mißbrauch oder Vergewaltigung. Das scheint tatsächlich nie vorgekommen zu sein. Ich habe mich erkundigt, soweit es mir möglich war, und nie einen Hinweis auf solche Verhaltensweisen gefunden. Vielleicht ist das ein Grund, warum Tain für mich harmlos ist. Er überschreitet eine bestimmte Grenze nie. Er muß sich an bestimmte Regeln halten, das ist wie ein Gesetz, das er nicht brechen kann. Ich bin noch lange nicht fertig mit meinen Untersuchungen, aber ich denke, hier habe ich einen wichtigen Hinweis, der mir hilft, die Zusammenhänge zu ergründen."

-   -   -


Am Stadtrand gab es ein ehemaliges Bürohaus, das abgerissen werden sollte. Katharin entdeckte eine Stelle im Bauzaun, wo vor ihr schon andere hindurchgeschlüpft waren. Sie staunte über die Häßlichkeit des Gebäudes. Von den Mauern fiel die Verblendung herunter, die Fensterrahmen waren verrostet, die Scheiben eingeschlagen.
Eine der stählernen Außentüren war aus den Angeln gehoben worden, so daß man ins Innere des Hauses kam. In dem engen Flur herrschte nachtgraue Dunkelheit. Auf dem Boden aus Waffelbeton lagen Schutt, Staub und Mörtelbrocken.
Katharin sah sich in den fahlgelb gekachelten Sanitärbereichen um. Die Toilettenkabinen hatten keine Türen mehr. Von den Toiletten und Waschbecken waren nur noch Scherben übrig. Die hochliegenden, schmalen Fenster - auch sie mit Sprüngen und Rissen - waren blind vom Staub.
Katharin hörte jemanden hereinkommen, der Fotos machte wie sie, jedoch mit einer Digitalkamera.
"Noch wer?" fragte sie und schaute in den Flur.
"Kannst du mich denn nie in Ruhe lassen?" fauchte Tain.
"In die Ruine wäre ich sowieso gegangen", erklärte Katharin. "Ruinen sind für mich Orte, wo ich das Leben wiederfinden kann."
"Das Leben? Hier ist doch überall nur Tod!"
"Hier ist die Schattenseite des Lebens, also auch ein Teil davon."
"Was hast du von der Schattenseite?"
"Ohne sie kann ich das Leben nicht finden."
"Man kann doch das Helle nicht finden, indem man die Dunkelheit sucht."
"Doch, für mich ist das so."
"Hier ist aber doch gar kein gutes Licht, um Fotos zu machen."
"Mit dem hoch lichtempfindlichen Film geht das schon", meinte Katharin. "Du kannst das ja auch mit deiner Kamera."
"So, und hier willst du also das Leben fotografieren."
"Was willst du denn fotografieren?"
"Ich will Orte fotografieren, die zeigen, wie grauenvoll das Leben ist."
"Würdest du den Tod bevorzugen?" wollte Katharin wissen.
"Der Tod macht unsterblich", behauptete Tain. "Der Tod macht unverletzbar."
"Wenn du den Tod bevorzugst, warum hast du dich nicht umgebracht?"
"Das ist es ja - ich hätte es tun sollen ... rechtzeitig."
"Rechtzeitig?"
"Ehe das alles passiert ist."
"Was war denn da?"
"Damals ... das kann neun Jahre her sein ... da war ich noch auf Saroud. Da gibt es ein Institut, und Leen ... hast du von dem mal gehört?"
"Staale hat erzählt, daß Leen mal für ihn gearbeitet hat, aber ich kannte ihn nicht."
"Es ist, als wenn man dich in ein Schlangennest wirft", beschrieb Tain. "Sie holen dich. Sie kommen von überall her und überall hin, und egal, wie langsam sie sind, du weißt, am Ende holen sie dich. Sie wollen dich vergiften, und das tun sie immer wieder, und sie machen dich damit willenlos und ... Es gibt keinen Ort, an den du flüchten kannst. Es gibt nichts, was dich schützen kann. Nur eines - der Tod ... Ich wollte sterben. Töten oder sterben. Leen wußte das."
"Und was hast du gemacht?"
"Ich hasse mich mit jedem Tag mehr, weil ich nicht gesprungen bin, auf die Gleise oder vom Balkon. Daß Leen so früh gestorben ist, ist meine Schuld, er hat den Streß mit mir nicht verkraftet. Sein Tod hat mir aber nicht geholfen. Ich muß mit diesen Erinnerungen leben. Sie lassen mich nie in Ruhe."
"Warum bist du nicht gesprungen?"
"Weil ich es nicht über mich gebracht habe, und ich hasse mich dafür."
"Willst du dich immer noch umbringen?"
"Im Grunde würde es nichts mehr ändern. Ich bin verflucht für immer, weil ich das alles nicht verhindern konnte."
"Und womit hilfst du dir?"
"Was man halt so macht ... Computerspiele oder Drogen oder ... Ich habe etwas herausgefunden. Wenn ich eine Frau erobere und sie anschließend eiskalt fallenlasse, geht es mir besser. Ich bringe die Frauen dazu, mir ihr Herz zu schenken, und dann trampele ich darauf herum, wieder und immer wieder. Das hilft mir."
"Wie lange hält das denn an?"
"Bis der Haß wieder hochkommt und mich erdrücken will", erzählte Tain. "Dann mache ich mir Luft."
"Wie fühlt sich der Haß an?"
"Das kommt vom Untergrund in mir hoch, dann will ich alles und alle vernichten, ich habe kein Mitgefühl mehr, alles und alle sind mir egal, auch ich selbst ... und dann kommt dieses Lähmende, das mir die Luft wegnimmt. Und dann muß ich mich befreien. Ich suche mir eine Frau aus, die ich quälen kann. Und dann kommt die Ruhe wieder. Alle Gefühle sterben, ich bin ruhig und kalt."
"Bis zum nächsten Mal."
"Eigentlich müßte ich dich umbringen, weil ich dir das erzählt habe. Niemand, kein lebendes Wesen darf das wissen. Das ist der Pakt."
"Der Pakt mit wem?"
"Der Pakt mit meinen Gefühlen."
"Wo sind deine Gefühle?"
"Was ich vernichten konnte, ist vernichtet", erklärte Tain. "Und was ich nicht vernichten konnte, schlage ich jedesmal aufs Neue ohnmächtig, und zwar dadurch, daß ich Frauen verletze und enttäusche."
"Warum eigentlich Frauen?"
"Weil das die Spezies ist, von der das Böse kommt."
"Und wenn alle Frauen tot wären, gäbe es das Böse nicht mehr."
"Dann hätte ich aber auch keine Frau mehr zum ...", sagte Tain und lächelte. "So gesehen, hat das Böse auch sein Gutes."
"Du willst die Macht gegen die Ohnmacht setzen", deutete Katharin. "Du fühlst dich ohnmächtig und quälst andere Menschen, um dich mächtig fühlen zu können. Das ist ein Zusammenhang, den auch Orwell beschrieben hat. Er läßt den Folterer O'Brien fragen:
'Wie versichert sich ein Mensch seiner Macht über einen anderen?'
Winston, der Gefolterte, antwortet wie ein Schüler:
'Indem er ihn leiden läßt.'
O'Brien lobt ihn:
'Ganz richtig, indem er ihn leiden läßt.'
O'Brien predigt eine Kultur, die auf Haß gegründet ist. Die Zukunft vergleicht er mit einem Stiefel, der in ein Menschenantlitz tritt, wieder und immer wieder ... so, wie du andere Menschen trittst, wieder und immer wieder. Wenn Opfer zu Tätern werden, ändert sich an der Situation nichts, lediglich die Rollen ändern sich."
"Leen war auch so, der war todgeweiht, der wußte, er muß sterben, und er hat mich benutzt, um sein Bedürfnis nach Macht auszuleben."
"Das, genau das ist der Unterschied."
"Was für ein Unterschied?"
"Leen ging es darum, dir zu helfen", betonte Katharin. "O'Brien ging es darum, Winston zu vernichten."
"Was weißt du angeblich über Leen?" wurde Tain ungehalten. "Du weißt gar nichts. Du weißt höchstens, daß er tot ist. Und daß er sterben mußte, stand seit Jahren fest. Und ich frage dich, wie sollte jemand seine Wut auf sein Schicksal auslassen sollen, wenn nicht an einem geeigneten Opfer?"
"Warst du das Opfer?"
"Du hast keine Ahnung, und das geht dich auch alles gar nichts an."
"Es geht um die Frage, was man gegen das Gefühl der Ohnmacht tun kann", faßte Katharin zusammen. "Wenn du dieses Gefühl in Haß umsetzst, bringt dir das nur kurzfristige Erleichterung. Du suchst diesen Kick immer wieder, du wirst regelrecht süchtig, du berauschst dich, ohne jemals wirklich befriedigt zu sein. Dir fehlt immer etwas. Durch das Ausleben von Haß bekommst du es jedenfalls nicht."
"Mir fehlt etwas, sagst du ... weißt du denn auch, was es ist und wie ich es kriegen kann?"
"Du mußt dich dem Inferno aussetzen", erklärte Katharin. "Du mußt dich dem Gefühl stellen, vor dem du immer davonläufst."
"Vor welchem Gefühl laufe ich davon?"
"Du kannst es nicht ertragen, zu lieben und geliebt zu werden. Du meidest es, wo du nur kannst."
"Was sollte es mir denn auch bringen?" fragte Tain. "Liebe hat doch noch nie gegen Haß geholfen."
"Du mußt es erfahren, nur dann kannst du es dir vorstellen."
"Und wenn ich es nicht will? Wenn ich es nicht tue?"
"Dein Haß quält dich, und du versucht, gegenzusteuern, indem du weiter andere Menschen quälst. Es wird aber nur schlimmer, je mehr Menschen du quälst."
"Warum sollte es deshalb schlimmer werden?"
"Weil dein Gewissen immer mehr belastet wird. Du weißt nämlich, daß es frevelhaft ist, was du tust. Du weißt, daß du an deiner Seele Schaden nimmst, wenn du anderen Menschen Schaden zufügst. Kennst du die Geschichte von Dorian Gray?"
"Hör' mir mit Zitaten auf. Ich finde außerdem, Dorian ist ein echtes Vorbild. Richtig gelebt und dann schnell und heftig abgetreten ..."
"Du willst so sterben wie Dorian Gray?" fragte Katharin. "In schwerster Qual, auf dem Boden einer staubigen Dachkammer?"
"Das geht schnell vorbei, und dann merke ich nichts mehr."
"Du kannst vor allem und jedem davonlaufen, auch vor dir selber. Aber du hast auf diesem Weg einen Begleiter, der dich nie verlassen wird. Und das ist die Angst. Du kannst sie zurückdrängen, indem du andere Menschen quälst. Aber mit jedem Menschen, den du quälst, wird sie größer. Du kannst sie nirgends loswerden. Dich und deine Wirklichkeit nimmst du immer mit, wohin du auch gehst, auch auf einen fremden Planeten."
"Wo soll das denn hinführen?"
"Geradewegs in die Selbstvernichtung", meinte Katharin. "Wenn du dich deiner Angst vor deinen menschlichen Gefühlen nicht stellst und es irgendwann nicht mehr schaffst, die Angst zurückzudrängen, versuchst du sie zu betäuben. Du ziehst dich in die Sucht zurück, du lähmst dich selbst ... oder du flüchtest gleich in den Tod."
"Und wenn ich gar keine Angst habe?"
"Auch vor dem Tod nicht?"
"Ich bereue, daß ich mich nicht umgebracht habe."
"Du wirst nicht sterben, solange du bei mir bist."
"Du kannst doch den Tod meines Körpers nicht aufhalten."
"Den Tod deiner Seele aber wohl."
"Du?" fragte Tain und musterte Katharin zweifelnd. "Du bist doch auch nur ein sterbliches Geschöpf, das in einem Augenblick ausgelöscht werden kann. Woher willst du denn die Ewigkeit nehmen in deiner Vergänglichkeit?"
"Das, was uns die Ewigkeit schenkt, sind nicht wir selbst", entgegnete Katharin. "Es ist in uns und zwischen uns. Wir können es nicht sehen, es ist aber vorhanden, und es hält, wo alles andere vergeht."
"Von dieser Ewigkeit merke ich nichts", sagte Tain nachdenklich. "Vielleicht liegt es daran, daß ich nicht dazugehöre."
"Daß du nicht dazugehörst?"
"Sogar unter Aliens fühle ich mich als Alien. Es gibt keine Heimat für mich."
"Wir sind Aliens unter Aliens, alle beide", meinte Katharin. "Wir scheinen heimatlos zu sein, doch jeder von uns findet in dem Herzen des anderen die Heimat."
"Vergiß nicht - wenn ich jemals anfange, mich nach dir zu sehnen, bringe ich mich um. Du hast also gar nichts davon, wenn du versuchst, mich für dich einzunehmen."
Tain nahm Katharins Hand, legte sie an seine Wange und verharrte für wenige Atemzüge. Dann lief er fort, ins Dunkel der Ruine.

-   -   -


Tain ging von nun an auch Staale aus dem Weg. Als Staale zu ihm in die Kaffeeküche kam, wollte Tain das Weite suchen.
"Bleibe hier", bat ihn Staale. "Es ist wichtig."
Staale rief Katharin an, die kurz darauf erschien.
"Ich lasse euch allein", sagte Staale. "Und - es gibt keine Kamera in diesem Raum. Niemand erfährt, was ihr besprecht, und Katharin darf mir davon auch nichts erzählen."
"Was soll das?" fragte Tain, als Staale fort war. "Was will der?"
"Tain, stelle dir einen Androiden vor, der mit einem Akku funktioniert", begann Katharin. "Er kann frei herumlaufen, er kann tun, was er will, er kann anrichten, was er will ..."
"Was willst du mir überhaupt erzählen?"
"Du hörst mir zu. Du hörst mir unbedingt zu."
"Ich will das aber nicht hören."
"Und ich will, daß du das hörst. Staale will das auch."
"Was!"
"Höre mir weiter zu. Der Android fühlt sich unabhängig und frei, niemand kann ihn kontrollieren, niemand kann ihm etwas anhaben ... so lange, bis der Akku leer ist."
"Und dann?"
"Dann muß jemand da sein für ihn. Dann muß jemand Strom liefern für ihn."
"Also ist er doch abhängig."
"Und er wird sich ganz bestimmt nicht die Stromquelle verscherzen."
"Was hat Staale gesagt?" fragte Tain mit erstickter Stimme. "Was will der?"
"Er will, daß du ab sofort damit aufhörst, andere Menschen zu quälen."
"Aber das tue ich doch gar nicht."
"Du betrügst und mißhandelst die Frauen, mit denen du etwas anfängst."
"Aber sind Frauen ... auch Menschen?"
"Bist du nicht dieser Meinung?"
"Ha ... sie lassen das ja auch mit sich machen."
"Und du wirst ab sofort damit aufhören", verlangte Katharin. "Ich kann dich sonst nicht mehr schützen."
"Ach, du bist eifersüchtig ... deshalb erzählst du so einen Unsinn."
"Tain, ich bin in der Lage, ohne dich zu leben, und ich erhebe keinen Anspruch auf dich, in keinerlei Hinsicht. Ich kann auf dich verzichten. Aber mit deinem Tod würde ich nicht zurechtkommen. Und wenn Staale dich fallenlassen würde - und das würde er, wenn du nicht sofort dein Verhalten änderst -, das würdest du nicht verkraften, und deshalb will ich dich warnen."
"Ah, wie selbstlos von dir", sagte Tain verächtlich. "Das ist doch keine Warnung, sondern eine Drohung, eine Erpressung."
"Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir einen Handel vorschlage: du kannst deine Aggressionen auf mich lenken, dann bleiben wenigstens diese Mädchen von dir verschont, und Staale behält dich als Mitarbeiter."
"Staale kann gar nicht auf mich verzichten!" sagte Tain von oben herab. "Ich bin seine rechte Hand!"
"Staale kann nicht mit einem Menschen arbeiten, der über Leichen geht."
Tain sagte nichts mehr, er blickte nur starr geradeaus.
"Tain, hasse mich", sagte Katharin eindringlich. "Hasse mich, so sehr du kannst. Der Haß wird dich stützen. Du hältst es sonst nicht aus. Ich gehe mit dir den ganzen Weg, ich bin an deiner Seite."
Sie tastete nach seiner Hand. Er riß sich los und lief aus dem Zimmer.
"Erlöse uns von dem Bösen", sagte Katharin und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

-   -   -


Es war zu warm für den Monat April. Es war so warm, daß die Bewohner der umliegenden Viertel in der Entwässerungsanlage baden gingen, die zu der hier entlangführenden Autobahn gehörte. Die Anlage war noch im Bau, und das Wasser war kein Abwasser, sondern Grundwasser. Die Sonne schien aus einem staubigen Himmel auf den staubigen, steinigen Strand. Einfassungen aus hellem Beton gingen über in fahlgraues Brachland. Eine frisch gegossene Betonbrücke spannte sich über mehrere, mal weitläufige, mal länglich-schmale Becken, die sich auf einer Seite alle verbanden und zum Strand hinführten. Das Wasser war trotz der staubigen Umgebung klar; man sah die Kiesel auf dem Grund. Dabei waren die Becken bis zu vier Metern tief.
Katharin ging nur selten baden, doch diese Anlage, die halb Industriegebiet, halb Brache und zugleich Baustelle war, übte eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus - ungeachtet der Tatsache, daß Baden hier eigentlich verboten war.
Nachts war es immer noch warm. Die Entwässerungsanlage wurde beleuchtet von dem matten Licht der Strahler an der Außenwand eines weiter entfernten Industriegebäudes. Einige von Katharins Bekannten kamen auch nachts hierher, um zu feiern, zu schwimmen und Musik zu hören. Als Katharin eines Nachts keine Ruhe finden konnte, gesellte sie sich dazu. Tain erschien ebenfalls und nahm teil an einem Würfelspiel. Seine Kumpane hatten als Preis für den Sieger einen Tanz mit Katharin ausgemacht; davon wußte Tain aber nichts, weil er erst später hinzugekommen war. Katharin lag im grauen Sommerkleidchen auf einer Betoneinfassung und beobachtete das Spiel. Es war nicht schwer für Tain, das Spiel zu gewinnen; die Schwierigkeiten kamen erst danach. Die Kumpane lachten und johlten, weil sie Tains Abneigung gegen Katharin sehr wohl mitbekommen hatten.
Tain warf seine Zigarette in den Sand.
"Hast du keine Angst, daß ich dich umbringen könnte?" fragte er Katharin, die lächelnd herangekommen war.
Katharin schüttelte den Kopf. Tain, der sich vor seinen Kumpanen nicht bloßstellen lassen wollte, schickte sich mit Todesverachtung in das Unvermeidliche. Er mußte mit Katharin zu einer Ballade tanzen, die er verabscheute, weil er sie unerträglich romantisch und verträumt fand. Als das Stück - es war "Built to last" von Mêlée - nach drei Ewigkeiten zu Ende war, faßte er Katharin bei den Schultern und schleuderte sie auf den sandigen Boden. Dann steckte er sich eine Zigarette an und eilte davon.
Katharin blieb noch bei der Entwässerungsanlage, als die anderen längst schlafen gegangen waren. Sie fragten sie, ob sie nicht mitkommen wollte, ob sie sich nicht fürchtete so allein hier draußen, ob sie nicht fror, doch sie verneinte alles.
Gegen Morgen erloschen die Außenstrahler des Industriegebäudes. Der Nachthimmel bekam ein helleres, gläsernes Blau. Ein rotvioletter Schein zog von Osten herauf.
Als Katharin hinter sich eine Flasche auf die Steine fallen hörte, fuhr sie herum.
"Das tut gut", rief Tain. "Fünfzig Bier, fünfzig Wodka, und ich ertrage die furchtbarsten Monster der Welt, die falschesten Schlangen, die gefühlskältesten Androiden ..."
"Ach. Und dich erträgst du auch."
"Wie kommst du darauf, daß ich mich zusaufen muß, um mich ertragen zu können?"
"Wenn du das wissen willst, dann werde ich dir jetzt zeigen, wer du bist."
Katharin stand auf und stellte sich vor Tain.
"Weg da!" rief er und schob sie von sich.
"Warum?" entgegnete Katharin. "Ich will dir doch nur zeigen, wer du bist."
"Das will ich aber gar nicht wissen."
"Na, wenn du dich zugeknallt hast, kann dir doch eh nichts passieren. Du merkst doch dann eh nichts mehr."
"Ich sage dir eins - wenn ich mich zusaufen muß, dann nur, um dich ertragen zu können."
"Ach, du traust dich nicht, mich zu umarmen?"
"Daß das klar ist - wenn ich dich umarme, dann nur aus einem Grund, nämlich weil ich dich dann besonders schlimm verletzen kann", behauptete Tain. "Weil, wenn man jemanden umarmt und dann wegstößt, wenn man jemanden an sich bindet und dann fallenläßt, kann man ihn besonders quälen. So ist das."
"Schön."
"Ach, und du willst das?"
"Aber sicher."
"Was, du willst das wirklich?"
"Ja, sicher."
"Also, ich mach' dich fertig", versprach Tain. "Ich mach' dich für immer unglücklich. Ich quäle dich bis an dein Lebensende. Und du willst das wirklich?"
"Ja, sicher."
Tain schloß die Arme um sie, fest und immer fester, als könnte er dadurch eins werden mit ihr, als könnten ihre Körper und ihre Seelen ineinandertauchen.
"Ich hasse dich", brachte er mühsam hervor, "ich hasse dich, ich hasse dich ... ich hasse alle Frauen, aber dich hasse ich mehr, als ich jemals eine Frau gehaßt habe. Ich werde dich ewig hassen. Nichts auf der Welt kann uns zusammenbringen. Nichts auf der Welt kann stärker sein als mein Haß auf dich. Alles wird vergehen, alles wird zerbrechen, nur mein Haß auf dich wird weiterleben, wenn ich längst tot bin. Ich will nichts von dir, ich will nur ... diesen Haß fühlen, diesen unendlichen Haß. Ich will dich erwürgen mit meinen eigenen Händen. Ich will dich vernichten, ich will dich in Staub verwandelt sehen. Tod ... Mord ... das soll mein Leben begleiten bis in alle Ewigkeit."
Katharins Wange lag an der seinen. Sie spürte Licht, Kraft und Wärme in sich, heller, strahlender, als sie es jemals erfahren hatte, doch schon immer, seit sie Tain kannte, war eine Ahnung davon durch sie geflossen, und es hatte sie an ihn gebunden, so fest, als könnte keine Macht der Welt diese Verbindung auslöschen.
Im ersten Morgenlicht schienen sie sich aufzulösen, auf dem Sand und Staub am Rande der Entwässerungsanlage. Eine schwere Hand lag auf ihrem Bein; er schien sie dort vergessen zu haben, und tatsächlich - Tain schien sich und Katharin und die Welt vergessen zu haben. Vielleicht lag er mehr über ihr als neben ihr, genau wußte sie das nicht; sie konnte nicht recht auseinanderhalten, was zu wem gehörte.

-   -   -


Es war am übernächsten Tag, morgens um sechs Uhr. Katharin ging eher zu ihrem Büro als sonst, denn sie hatte Brötchen geholt und wollte für ihre Kollegen decken, mit denen sie zum Frühstück verabredet war. Im Schatten einer Mauer begegnete sie Tain, der so tat, als würde er sie nicht kennen. Erst als Katharin an ihm vorbeiging, näherte er sich ihr, so daß sie kurz den Arm um ihn legen konnte; er machte sich aber gleich los und strebte weiter.
Katharin ging in ihr Büro und blieb in der Tür stehen. Ihr Blick fiel auf einen weiß blühenden Zweig in einer Vase, die jemand auf ihren Schreibtisch gestellt hatte.
"Versuche nicht, herauszufinden, wer das war", sagte sie zu sich selbst. "Es ist unmöglich."
Sie trat ans Fenster und schaute in den Himmel.
"Es muß doch alles einen Sinn haben", dachte sie. "Vielleicht liegt die Antwort irgendwo hier oben."
Auf einen Notizzettel schrieb sie die Worte:
"Man kann glücklich sein, ohne es zu wissen. Das ist immer noch besser, als unglücklich zu sein, ohne es zu wissen."

-   -   -





... WEITER ...

... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT: TEIL 3" ...

... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT" ...

... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "NETVEL" ...