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Spiegelnder Abgrund
"Underneath the frozen,
underneath the tranquil light,
far beneath the still, still waters
a raging sea subsides.
Underneath the silence,
underneath translucent sea,
far beneath the still, still waters,
they run so deep.
And the still, still water
conceals the storm inside,
like the still, still waters
deep within your eyes."
(Matt Darey feat. Kate Louise Smith - "Still Waters (Colorless Remix)")
Eis und Wasser - verschwimmende Grenzen ...
Im nächsten Traum stand Katharin wieder im Bettensaal. Tain saß auf dem vordersten Bett.
"Ich hätte dir nicht so viel erzählen sollen", meinte er. "Ich hätte dir nie irgendetwas erzählen sollen."
"Warum nicht?"
"Du weißt zu viel über mich."
"Was stört dich daran?"
"Du hast zu viel Kontrolle über mich."
"Ich kann dich nicht kontrollieren."
"Du beobachtest mich", beklagte sich Tain. "Du bist immer da. Deinetwegen komme ich nicht zur Ruhe. Das ist wie ... ewige Folter."
"Ich dachte, wegen deiner Erinnerungen kommst du nicht zur Ruhe."
"Was für Erinnerungen?"
"Du weißt doch, wie du dich aufregst, wenn ich SalaRien anspreche."
"Ja, und?"
"Diese Erinnerungen könnten einen Sinn haben."
"Was denn für einen Sinn?"
"Deine Erinnerungen an SalaRien könnten dazu da sein, andere Erinnerungen zu überdecken."
"Du behauptest wieder einmal, Sachen über mich zu wissen, die ich selber nicht weiß."
"In SalaRien könnte etwas geschehen sein, das dich bis heute belastet", sagte Katharin und wunderte sich, daß Tain sie nicht unterbrach. "Was es war, werde ich nie erfahren, aber ... hast du dort erlebt, daß du ignoriert, beleidigt, angeschrien, geschlagen oder gedemütigt wurdest?"
Tain saß reglos da.
"Meine Vermutung lautet", fuhr Katharin fort, "daß deine Erinnerungen an SalaRien andere Erinnerungen verdecken, die viel schlimmer sind."
"Es gibt und gab nie etwas Schlimmeres als SalaRien."
Katharin fühlte, wie schwer es ihr fiel, die Ereignisse anzusprechen, die Tain belasteten, obwohl sie kaum etwas davon wußte.
"Es macht sprachlos", meinte Katharin.
"Was?" fauchte Tain.
"Was du erlebt hast, macht mich sprachlos", beschrieb Katharin. "Und ich glaube, du hast noch ganz andere Dinge erlebt, die dich bis heute belasten, und die liegen Jahrzehnte zurück und haben nichts mit Saroud und SalaRien zu tun. Und die sind es, die sprachlos machen."
"Dafür hast du doch keinerlei Beweise."
"Es ist nur eine Hypothese", betonte Katharin. "Willst du mir etwas erzählen dazu?"
"Es gibt nichts zu erzählen."
"Das Nichts kann man nicht vergessen ... aber an das Nichts kann man sich auch nicht erinnern."
"Was für ein Unsinn."
"Und wenn es doch etwas gibt, das lange zurückliegt und das du unbedingt vergessen willst ..."
"Da ist nichts."
"Kleine, häßliche Ereignisse des Alltags, versteckte Entwertungen ... etwas, das man kaum bemerkt und das doch geeignet ist, das Selbstwertgefühl zu untergraben ... weil es zu wenig ist, um es anderen anzulasten, und zu viel, um darüber hinwegzugehen ... kaum greifbar, kaum benennbar ... und umso verstörender."
"Was meinst'n damit?"
"Ich meine die kleinen Erinnerungen an die kleinen, dreckigen, erniedrigenden Ereignisse, die so gerne vergessen werden, weil man glaubt, selbst daran schuld zu sein", erklärte Katharin. "Man bildet sich ein, man hätte diese Ereignisse verhindern können. Man macht sich selbst den Vorwurf, versagt zu haben. Im Laufe der Jahre sammelt sich ein Kehrichthaufen voller Demütigungen an. Sie graben sich ein ins Innere der Seele und vergiften sie. Niemand kann so etwas vergessen. Es läßt sich aus der Biografie eines Menschen nicht mehr löschen.
Wenn es so etwas gegeben hat, dann wären deine Erinnerungen an SalaRien eine Geisterbahn, in die du dich immer wieder setzen kannst, um ein Gruseln zu empfinden, das dich als Mensch heile läßt und dich und deine Empfindungen nicht in Frage stellt. Die Erinnerungen an SalaRien wären ein Schutz vor anderen Erinnerungen - an Ereignisse, die viel länger zurückliegen und die dich viel mehr belasten.
Nein, ich weiß nicht, welche Demütigungen du erlebt hast, Tain. Ich weiß nicht, was dich zerstört hat. Aber es muß mit Grenzüberschreitungen und seelischer Grausamkeit zu tun gehabt haben. Viele Menschen ziehen den Tod vor und bringen sich um, wenn sie gekränkt und gedemütigt wurden."
Katharin rechnete damit, daß Tain ihr in heftigen Worten entgegnen würde, ihre Behauptungen seien anmaßend, eine reine Erfindung und durch nichts zu belegen. Er schien allerdings weder die Kraft zu haben, sie zu beschimpfen, noch schien er die Kraft zu haben, davonzulaufen. Er riß den Überwurf vom Bett und verbarg sich darunter, so daß nur noch ein Haufen Stoff zu sehen war.
Katharin setzte sich auf den schlichten Holzstuhl vor der Fensterwand. Sie sah in Gedanken einen Sekretär vor sich, ein Möbelstück, in dessen Schubladen immer mehr unerledigte Sachen hineingelegt wurden, mehr und mehr, bis die Schubladen nach Jahrzehnten endlich voll waren und nichts mehr hineinging. Ungefähr so hatte sie sich Tains Innenleben vorgestellt: er häufte Schuld und Scham in sich an, so lange, bis er nichts mehr fassen konnte und seine abweisende, gefühlsarme Fassade zusammenbrach, deren Erhalt für ihn stets im Vordergrund gestanden hatte. Es war jedoch anders gekommen. Tain hatte die Welt der Lebenden verlassen, ehe die Schubladen voll wurden.
"Es ist überhaupt nichts passiert", hörte sie Tain sagen.
Er saß auf dem Bett, den Überwurf um die Schultern gezogen.
"Nie ist etwas passiert", fuhr er fort, "überhaupt nichts. Bevor ich nach SalaRien gekommen bin, ist in meinem Leben alles nach Plan gelaufen. Auch früher, in der Kindheit, gab es keine Skandale. Ein paar schlechte Noten, ein paar illegale Computerspiele - was ist das denn schon? Das gehört doch zu jeder normalen Kindheit dazu."
"Das stimmt."
"Dann ist deine Theorie doch hinfällig."
"Es gibt mehr als das, was man auf den ersten Blick sieht."
"Was soll denn das sein?"
"Manchmal ist gerade die Tatsache, daß nichts passiert, die Katastrophe."
"Wie?"
"Ich meine das Nichts ... das Fehlen, den Mangel, die Abwesenheit. Das Nichts kann einen Menschen entwerten ... Ignorieren, fehlendes Interesse ... fehlende Wertschätzung ... das Nichts kann einen Menschen sogar umbringen."
"Wie das denn?"
"Wenn du dich von jemandem abwendest, kannst du ihn damit entwerten", zählte Katharin Beispiele auf. "Wenn du ein Gespräch verweigerst, kann du jemanden damit entwerten. Wenn du eine Verabredung nicht einhältst, kannst du jemanden damit entwerten. Wenn du jemandem etwas verschweigst, das für ihn wesentlich ist, kannst du ihn damit entwerten. Wenn du für jemanden nicht da bist, wenn er dich braucht, kannst du ihn damit entwerten. Wenn du jemanden bewußt übersiehst, kannst du ihn damit entwerten. Wenn du dich nicht mehr um jemanden kümmerst, den du gut kennst und mit dem du gemeinsam viel erlebt hast, kannst du ihn damit entwerten. Wenn du jemanden mitten im Gespräch einfach stehen läßt, kannst du ihn damit entwerten. Wenn du ein Versprechen nicht einhältst, das jemandem viel bedeutet, kannst du ihn damit entwerten. Die Entwertung findet durch das Fehlen statt, den Mangel, das Nichtvorhandensein, die Abwesenheit. Bei dir habe ich beobachtet, daß du häufig auf genau diese Art mit deinen Mitmenschen umgehst. Dieses Verhalten ist kennzeichnend für dich. Das bringt mich auf die Vermutung, daß du genau das in deiner Kindheit immer wieder erfahren hast und daß es dich nicht mehr losläßt. Es könnte sein, daß du versuchst, diese Ereignisse ungeschehen zu machen, indem du immer wieder mit anderen Menschen so umgehst, wie mit dir früher umgegangen wurde."
"Und was soll ich daraus machen?" fragte Tain kurz angebunden. "Für mich ist doch eh alles vorbei. Ich kann sein, wie ich will, und niemand wird mich daran hindern."
"Wenigstens kennst du jetzt einen möglichen Grund dafür, warum du immer an SalaRien denken mußt."
"Und was ändert das?"
"Vielleicht beunruhigt es dich jetzt weniger, wenn die Erinnerungen an SalaRien in dir hochkommen."
"Das ändert doch an den Erinnerungen nichts."
"Es kann an deiner Sichtweise auf diese Erinnerungen etwas verändern."
"Was soll das denn heißen?"
"Wenn dir bewußt ist, daß die Erinnerungen an SalaRien dich vor weit schlimmeren Erinnerungen schützen könnten ... vielleicht kannst du dann besser damit zurechtkommen."
"Du sagst, diese 'Geisterbahn' - SalaRien - wäre für mich sooo wichtig", herrschte Tain Katharin an. "Und was habe ich dann vorher gemacht? Vor SalaRien? Wie bin ich da zurechtgekommen, ohne diese Geisterbahn, die doch angeblich so unentbehrlich für mich ist?"
"Wie ging es dir damals?"
"Mir ging es sooo gut ... echt ... ich war sooo glücklich - ohne SalaRien und ohne dich und das alles ..."
"Mir fällt es schwer, mir vorzustellen, daß du damals wirklich so glücklich gewesen bist."
"Und schon wieder weißt du alles über mich, auch das, was ich selbst nicht weiß ... echt, wenn ich eine Frage über mich habe, muß ich nur zu dir kommen, und du weißt die Antwort!" höhnte Tain.
Katharin blickte ihn an und schwieg.
"Was ... was guckst du mich immer so an?" fragte Tain verunsichert. "Was soll das?"
"So guckt dich ein Mensch an, der dich liebt."
"Ein Mensch ... ich sehe hier keinen Menschen. Für mich bist du kein Mensch."
"Vielleicht kannst du dir einfach nicht vorstellen, daß ein Mensch dich lieben könnte."
"Ach, du denkst, ich weiß nicht, wie das ist, wenn mich jemand liebt? Du denkst, daß Liebe für mich ein Fremdwort ist und daß ich damit nichts anfangen kann, ja? Jetzt habe ich aber mal deine Gedanken gelesen, ja?"
"Das will ich nicht in Abrede stellen, daß du meine Gedanken lesen kannst. Das hatten wir schließlich schon öfter."
"Jetzt bist du wieder auf dieser technischen Schiene ... echt, manchmal denke ich, du bist nur ein Android", sagte Tain mit Enttäuschung in der Stimme. "Diese angebliche 'Liebe' - das wirkt so aufgesetzt, so unecht ..."
"Du fühlst es nicht - das glaube ich dir."
"Und das macht dir nichts aus, wie?"
"Nein."
"Warum nicht?"
"Weil ich es fühle."
"Weil du was fühlst?"
"Das, was in dir vorgeht, was du selber nicht merkst, das merke ich."
"Ach, du empfängst jetzt Daten von mir, oder was?"
"Ja, genau."
"Soo ... Bluetooth-mäßig ...?"
"Ja, genau."
"Also ist zwischen uns eine Bluetooth-Verbindung."
"So ungefähr könnte man es beschreiben", meinte Katharin, "es ist aber noch mehr als nur das. Es ist auch eine Verbindung über größere Entfernungen, etwas Mehrdimensionales und schwer Faßbares."
"Echt, du redest schon wieder so einen Schwachsinn ... Was willst du denn nur mit mir? Wieso gibst du dich überhaupt noch mit mir ab? Verschwinde doch endlich. Deine Wahrnehmungen sind reines Wunschdenken. Ich liebe dich nicht. Und selbst, wenn ... du hättest doch nichts davon. Du verschwendest hier nur deine Zeit, echt. Wach' endlich mal auf aus deiner Traumwelt. Komm' endlich zurück in die Re-a-li-tät. Die Wirklichkeit findet nicht hier statt!"
"Unsere Beziehung findet hier statt, Tain. So ist das nun mal."
"Aber das ist doch alles nur Einbildung, das hat doch überhaupt nichts mit der Wirklichkeit zu tun."
"Das ist auch ein Stück Wirklichkeit, was hier stattfindet", widersprach Katharin.
"Wirklichkeit, sagst du?" rief Tain außer sich. "Guck' dir das doch mal an hier ... das nennst du 'Wirklichkeit'? Ein paar Stahlrohrbetten in einem kahlen Raum, das ist für dich die Wirklichkeit, das wahre Leben, das Ziel deiner Träume?"
"So ist es", nickte Katharin.
"Suchst du denn nicht mal ... nach Glück?"
"Um Glück geht es mir nicht", betonte Katharin. "Mir geht es um dich."
"Womit kann ich dich denn vertreiben?" fragte Tain und wirkte beinahe verzweifelt. "Was müßte ich tun, um zu erreichen, daß du mich nie wiedersehen willst?"
"Das kannst du nicht."
"Ich benehme mich dir gegenüber so abscheulich, daß du dich nur erniedrigst, wenn du dich mit mir abgibst."
"Du siehst das so, das glaube ich dir."
"Und wie siehst du das?"
"Ich sehe dich als Täter und Opfer in einer Person", erklärte Katharin. "Meine Liebe zu dir ist allerdings unabhängig von Gut und Böse. Sie ist bedingungslos."
"Das glaube ich dir nicht."
"Ich weiß, daß es dir schwerfällt, zu vertrauen."
"Mir fällt es nicht schwer, zu vertrauen", entgegnete Tain. "Ich weiß aber, wem ich allein vertrauen kann - mir selbst."
- - -
In einem Traum stand Tain in der Waschkaue, umhüllt von seinem schwarzen Mantel. Er hatte seine Augen hinter einer spiegelnden Brille verborgen.
"Was willst du schon wieder hier?" fragte er Katharin, die im Türrahmen stand.
Sie schwieg. Ihre bloße Anwesenheit schien Tain mehr und mehr aufzuregen.
"Jetzt wollen wir mal Tacheles reden", schrie er sie an. "Du haust hier sofort ab, sonst vergesse ich mich ..."
Katharin rührte sich nicht und sagte weiterhin nichts. Tain lief mit erhobenen Fäusten auf sie zu. Er schien sie packen und wegschleudern zu wollen, doch er griff durch sie hindurch - wie durch ein Gespenst - und stürzte auf den Linoleumboden im Bettensaal. Die Verzweiflung schien vollends von ihm Besitz zu ergreifen.
Katharin wußte, was es für Tain bedeutete, nicht davonlaufen zu können. Sie setzte sich neben ihn auf den Boden.
"Du denkst, du hast gewonnen", sagte er schließlich, "aber du hast niemals gewonnen. Du hättest auch nicht gewinnen können, wenn wir beide 150.000 Jahre alt geworden wären."
- - -
Über dem Meer hing ein Nebelschleier. Der Dünensand war schwer vom letzten Regen. An einem Bohlenweg stand eine Hütte ohne Fenster. Die Tür war verschlossen. Außer Inir Bendthaus und Léry Lassigue war hier draußen niemand unterwegs.
Inir trug ein Diadem aus blauen Blüten in ihrem blauen Haar. Sie saß an die Bretterwand gelehnt auf einer Bank und schaute Léry unverwandt an.
"Daß du hier bist und daß ich dich anschauen kann", sagte sie, "das ist das Wunder, und ich kann nie genug davon bekommen. Du gibst der Schönheit ein Gesicht. Du bist ein Abbild der Ewigkeit und Wahrhaftigkeit. In deinen Augen spiegelt sich die Dämmerung der ewigen Seligkeit. Du und ich, wir sind das Meer und der Sand. Unsere Tochter Leonie vereint beides in sich. Wir sind unendlich beschenkt worden, und wir dürfen einander unendlich beschenken."
zu: Inva vs. Aymon - "Keep the Moment"
"Alles ist endlich, auch unser Leben hier."
"Wir können nie alles verlieren", meinte Inir. "Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mehr ausgelöscht werden. Unsere Ewigkeit findet in den Augenblicken statt, die wir miteinander haben."
"Und vielleicht noch darüber hinaus, aber das weiß niemand."
"Hoffnung ... es wird erzählt von einer blauen Blume namens Hoffnung."
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Katharin und Constri waren - wie schon in manchem Sommer - auf dem grönländischen Eismeer unterwegs. Das Boot, das nur etwa so groß wie ein Bus war, bewegte sich zwischen hochhaushohen Eisbergen, die im rosafarbenen Licht der Morgensonne glänzten. Es war halb zwei Uhr in der Frühe. Gesteuert wurde das Boot von einer jungen Frau namens Leonie Bendthaus-Lassigue. Sie trug einen petrolfarbenen Overall und darüber ein lindgrünes Röckchen aus Denim. Das tiefdunkle Haar war zu zwei langen, hoch angesetzten Zöpfen gebunden. Leonies Teint war dunkel, ihre großen schwarzen Augen waren umrahmt von eisblauen Lidstrichen.
"Was für eine Nixe", dachte Katharin.
Das Boot durchquerte einen Teppich aus Eisbrocken, die im Dämmerlicht glitzerten. Constri stand über die Reling gebeugt und filmte die Eisstücke auf dem Wasser, in dem sich die tiefstehende Sonne spiegelte, und die rosa-golden leuchtenden Wolken.
Alles war in Bewegung: das Wasser, das Eis, die Sonne und die Wolken.
Wie sich herausstellte, stammte Leonie aus Stellwerk auf Saroud.
"Meine Eltern haben sich am Meer kennengelernt", erzählte sie. "Sie haben mit Salzwasser angestoßen, als sie geheiratet haben."
"Haben sie keine Angst um dich?" fragte Katharin.
"Warum?"
"Hier ist es doch durchaus gefährlich ..."
"Ach nein, man muß nur aufpassen", meinte Leonie. "Gefährlich ist es hier nicht. Man darf halt nicht ins Wasser fallen, dort verliert man nach spätestens zwei Minuten das Bewußtsein, wegen der Kälte. Nicht vergessen - Hoffnung, die kleine blaue Blume namens Hoffnung ..."
Der Eisteppich sah einladend aus, ähnlich wie Wolken, wenn sie von oben betrachtet werden - als könnte man sich hineinfallen lassen und mit ihnen wegschweben.
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Tanz war die Erfahrung von Ewigkeit, das erlebte Katharin jedesmal in den Clubs, gemeinsam mit der stummen Menge, die der Musik folgte, sich auflöste in den Sounds und Rhythmen, dunkle Schemen im Stroboskopgewitter.
"Schattentanz" von Klangstabil war einer der weltentrückten Titel, die während der Morgendämmerung im "Mute" liefen: redundant, zerfließend, wie das erste Licht des Tages auf der Tanzfläche.
"Meine Welt wird nie heile sein", dachte Katharin, "aber aus Asche können Diamanten werden."
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In einem Traum fehlte die Saaldecke, der spiegelnde Boden lag im bleichen Frühlicht, und alles tanzte vor sich hin, eins mit dem Rhythmus.
"Er ist nie Teil davon", dachte Katharin und warf einen Blick zu Tain hinüber, der sich neben den DJ gestellt hatte. "Er ist zwar auf der Party, aber nie wirklich dabei."
"Und jetzt ... ein Wunsch", kündigte der DJ an.
Er spielte "Second Skin" von den Chameleons, einen Shoegaze-Clubhit aus den Achtzigern. Tain ging auf die Tanzfläche, was er hier sonst nie getan hatte und auch früher - etwa im "Mute" - nur selten. Er hielt immer zwei Schritte Abstand zu Katharin und sang den Text mit:
"I dedicate this melody ... for you."
Er lächelte sie an - versonnen, vielleicht sogar unbewußt - und seltsam traurig.
"Er kann nicht aus seiner Haut", dachte Katharin. "Nicht einmal der Tod ändert daran etwas. In romantischen Liebesdramen gibt es die sogenannte 'Jenseits-Hoffnung'. Liebende, die zu Lebzeiten nicht zusammengefunden haben, sollen demnach im Tod vereint werden, über alles Trennende hinweg. So einfach geht das aber nicht. Schließlich nehmen die Menschen sich selbst mit - und damit auch ihre Eigenarten und Hemmungen."
Als das Stück endete, hatte Tain es eilig, von der Tanzfläche herunterzukommen. Er verschwand im Dunkel hinterm DJ-Pult. Der Traum zerfiel.
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... FORTSETZUNG NICHT AUSGESCHLOSSEN ...
... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT: TEIL 5" ...
... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT" ...
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