Rhohausen
.
Frühsommer 2001.
Das absolute Böse kommt entspannt und heiter daher. Böses wird sichtbar an den Opfern, nicht an den Tätern.
Am rückwärtigen Eingang des weitläufigen Geländes von Rhohausen ging es zu wie auf einer Baustelle. Stahlträger lagen übereinandergestapelt. Männer in blauer Kleidung zogen hölzerne Karren über einen Schotterweg. Katharin betrat Gebäude 501 durch ein Flügeltor und ging durch einen Flur mit einer Reihe dicht nebeneinanderliegender grüner Rauhglasfenster, die sich hoch oben befanden. Katharin parkte meistens neben der Einfahrt für Zulieferer, weil sie von dort aus rasch in das weitverzweigte Kellergeschoß hinunterkam. Noch immer zog sie es vor, durch den Keller zu gehen. Da gab es niedrige, abschüssige Gänge ganz aus Beton, mit gepolsterten Heizungsrohren unter der Decke. In einer Nische leuchtete das Anzeigelämpchen des Aufzugs. Sonst war es fast dunkel; die nächste Lampe brannte in einem Nebenflur.
Im 5. Stock empfing sie pastellfarbener Teppichboden.
"Ach, Sie machen das Gutachten", sagte eine Mitarbeiterin des Instituts, als Katharin die Tür zu dem lichtdurchfluteten Raum H-05 öffnete. "Mehder heiße ich. Und dies ist meine Kollegin, Ferene Wahl."
Es gab Kaffee.
"Sie können sich das Kind gleich ansehen", versprach Frau Mehder. "Auf jeden Fall schon mal das Video."
Als sich die Tür öffnete, legte sie die Fernbedienung aus der Hand.
"Ach, guten Morgen, Herr Vernel", begrüßte sie den Eingetretenen.
"Guten Morgen, die Damen", lächelte Vernel, ein ergrauter Mittfünfziger im leichten Sakko. "Ich will Sie eigentlich gar nicht stören."
"Darf ich vorstellen?" fragte Frau Mehder in einem ehrerbietigen Ton. "Herr Professor Sanso Vernel - und die Sachverständige vom Gericht, Katharin Hausser."
Vernel nickte Katharin zu.
"Haben Sie die Aufzeichnungen?" fragte er Frau Mehder. "Die vom 02.05., sind das die, die Sie sich ansehen wollen?"
"Augenblick, ich sehe auf der Kassette nach", antwortete Frau Mehder. "02.05. Das sind sie."
"Könnten Sie die noch einmal beiseitelegen?"
"Brauchen Sie sie?"
"Nicht heute, aber wir müssen die noch sichten."
"Oh - entschuldigen Sie, Herr Vernel. Wir können auch eine andere Kassette nehmen. Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit?"
"Gerne", erwiderte er sogleich. "Können Sie mich trotzdem entlassen? Ich habe gleich noch einen Termin."
Bald nachdem Vernel aus dem Zimmer gegangen war, erschien er auf dem Monitor.
"Hier, das ist er, Vernel, der das mit den Kindern macht", sagte Ferene.
"Wie - was macht er denn mit denen?" fragte Katharin.
"Er betreut sie, wenn sie Schwierigkeiten haben, in der Schule oder im häuslichen Bereich", erklärte Ferene. "Wir arbeiten drüben in der Beratungsstelle. Dies hier auf Kassette, das war ein Aufnahmegespräch mit Hendrik, den Sie begutachten. Er soll hier bei uns betreut werden."
"Weißt du denn, warum du bei uns bist?" fragte Vernel in dem Film.
Längere Stille folgte.
"Weil - ich habe da ... weil, die Lehrerin hat mit dem ... geredet", sagte Hendrik schließlich.
"Also, ich sag' dir das nochmal, wie das war", erläuterte Vernel. "Also - die Frau Dr. Ehrwert, die ist eine sehr gute Freundin von mir. Und die hat dich da bei der Einschulung gesehen und hat sich gedacht, für dich könnte man doch mal was tun."
Wieder folgte Stille.
"Sie sind Psychologin?" fragte Frau Mehder.
"Psychiaterin", gab Katharin Auskunft. "Psychiatrie, Psychotherapie ..."
"Wie sind Sie gerade auf dieses Fach gekommen?" erkundigte sich Frau Mehder.
"Erst wußte ich nicht, in welche Richtung ich mich weiterbilden will", erzählte Katharin. "Dann habe ich gemerkt, daß das Fach meinen Neigungen entspricht; ich konnte weiter das tun, was ich sowieso andauernd mache - über Menschen nachdenken und mit ihnen sprechen -, nur daß ich es auch versilbern kann.
Mein Metier ist die Erwachsenenpsychiatrie. Das hier ist eine Vertretungssituation. Ich wurde von den Kinder- und Jugendpsychiatern um Unterstützung gebeten, weil deren Sachverständige keine Zeit hatten."
"Und dann hat die Frau Dr. Ehrwert mit mir geredet und auch mit deinen Eltern, und dann sind wir so übereingekommen", fuhr Vernel fort.
"Ist das nicht ganz schön schwer, mit diesen Kranken?" wollte Ferene wissen. "Also, ich stelle mir das ganz schön schwer vor ..."
"Da haben wir uns ausgedacht, daß du zu uns kommen kannst", setzte Vernel hinzu.
"Das erlebe ich nicht so", meinte Katharin. "Für mich ist Krankheit nur ein weiterer Zustand, in dem Menschen sich befinden können. Das wirkt auf mich nicht fremd oder unberechenbar."
"Frau Mehder und Frau Herkens haben dich in der Kindergruppe beobachtet", erzählte Vernel, "und da haben die sich gesagt, der Hendrik, das ist einer, der mehr für sich ist und gar nicht so viel mit anderen spielt. Wie ist das denn? Spielst du gerne mit anderen Kindern?"
"Naa ...", sagte Hendrik.
Katharin fröstelte und schmiegte sich immer enger an ihren Stuhl. Sie versuchte, ihren Widerwillen zu verbergen, konnte sich jedoch nicht vorstellen, daß ein so übermächtiges Gefühl des Abscheus unbemerkt blieb.
"Haben Sie auch Kinder?" fragte Ferene.
"Ich will welche haben", antwortete Katharin, "aber dazu gehören nun einmal zwei."
"Da sind Sie noch nicht einig ...?"
"Das muß sich ergeben ... An meine Kindheit kann ich mich gut erinnern. Ich habe immer Wert darauf gelegt, als Mensch wahrgenommen zu werden, nicht einfach nur als Kind. Vielleicht wollte ich deshalb so schnell wie möglich erwachsen sein."
"Ist das so", forschte Vernel, "daß da all die anderen Kinder stehen und zu dir 'rübergucken und sagen, ist der Hendrik aber komisch, will der gar nichts mit uns zu tun haben?"
"Naa ... haha ... nein", sagte Hendrik.
"Das wollen wir mal annehmen, daß du gerne mit anderen Kindern spielst und lernst. Wir haben uns nämlich gedacht, daß du es sonst in der Schule schwer haben könntest. - Weißt du was, Hendrik? Wenn du jetzt immer zu uns kommst, und dir paßt etwas nicht, dann sag' das ruhig laut! Wir fallen davon nicht gleich um. Wir haben schon allerlei Sachen gehört und sind auch schon beworfen worden. Mit Knetgummi."
"Haha", sagte Hendrik.
Damit war das Aufnahmegespräch beendet.
- - -
"Zuerst habe ich nicht über das Kind, sondern vor allem über Vernel geschrieben", seufzte Katharin. "Das kriegt das Gericht natürlich nicht zu sehen, um Himmels willen."
Sie zog die Bettdecke über sich und sagte langsam und deutlich:
"Wenn die Verbindung zwischen uns abreißt, dann liegt es in keinem Fall daran, daß ich einfach aufgelegt habe. Das tue ich nicht, egal, was wir reden. Es kann also nur ein technischer Fehler sein, wenn das Gespräch weg sein sollte."
"Ist gut", sagte Tain, "das habe ich verstanden."
"Also ... ich will dir das erzählen und freue mich, daß ich die Gelegenheit habe, mit dir zu sprechen. Also - Kollege Sanso Vernel ist fachlich gesehen das, was man als 'tadellos' bezeichnet: Er folgt den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, das Konzept bezieht alle bekannten Stolperfallen mit ein, Erfolge sind bereits nachgewiesen, und insgesamt kann Vernels Verhalten in jeder Hinsicht nachvollzogen und gerechtfertigt werden. Es geht um die Arbeit mit mißbrauchten Kindern, und Vernel zeigt - technisch betrachtet - ein umfangreiches Einfühlungsvermögen. In der Begegnung mit Vernel - und ohne mit ihm zu sprechen - habe ich körperliche Übelkeit empfunden, gleichzeitig fühlte ich mich atemlos und bekam Kopfweh. Es hat angefangen, als er dieses Kind befragt hat, und als er dann auf einer anderen Videokassette diesen Entspannungstext vorgetragen hat, war es vollends aus. Ich habe gedacht, die Luft müßte Blitze schlagen, und ich müßte weinen und mit einer Trennschleifmaschine Köpfe von ihren Körpern trennen."
"Weshalb denn?"
"Die Stimme. Es war einfach die Stimme. Ich weiß, das klingt hergeholt, lächerlich und belanglos, aber die Alarmsirene in mir ist losgegangen. Und die Sirene sagt mir nur, daß etwas nicht richtig sein kann, daß etwas Gefährliches in der Luft liegt, etwas Bedrohliches, Grenzüberschreitendes. Sie sagt mir aber nicht, was es ist. Ich empfand eine unvorstellbare Wut, wie ich sie auch bei Schmuddeligkeiten empfinde, mit der Menschen gedemütigt werden, eben keine harmlosen Sprüche. Von Vernel kamen gar keine schmuddeligen Sprüche, Bilder, Anspielungen, alles war rein und glatt, und doch hatte ich das Gefühl, das dazu paßt. Und es war nur allein die Stimme, dieses Leise, Lutschende, Leckende, Schmatzende, zart Betonte, das Ruhe und Entspannung ausstrahlen soll und bei mir nur schiere Wut und Verteidigungsbereitschaft hervorruft. Es kann nicht nichts sein, dafür ist es zu viel. Es kann nichts Harmloses sein, dafür wühlt es mich zu sehr auf. Es wirkt auf mich wie grenzüberschreitende Gewalt. Ich will flüchten, aber wenn ich es tue, fällt auf, daß ich mich angegriffen fühle, und ich kann doch nicht sagen, wodurch. Ich kann beispielsweise in einer Kursgruppe, wo Entspannungstexte von einer solchen Stimme vorgetragen werden, nicht erzählen, wie es mir dabei geht, denn diese Wahrheit darf man nicht sagen - daß die Stimme des unterrichtenden Therapeuten Erinnerungen an Gewalterfahrungen wachruft, an die man sich ansonsten gar nicht erinnern kann und von denen auch biografisch nichts bekannt ist."
"Und die Kinder?"
"Es sieht so aus, als wenn es ihnen gefällt. Und auch die Kollegen entspannen sich wohlig, wenn Vernel redet."
"Nur du nicht."
"Nur ich nicht, und es kommt mir dann so vor, als wenn ich ganz allein auf der Welt bin mit dieser unfaßbaren Wut auf dieses gemessene, verklemmt wirkende, betont sanfte Gesäusel."
"Vielleicht ist das alles nur dein eigenes Empfinden, was mit Vernel nichts zu tun hat und was er mit seiner Stimme nur zufällig auslöst."
"Diesen Vorwurf habe ich mir auch schon gemacht. Aber die Beklemmung weicht davon nicht. Die Alarmsirenen springen immer wieder an."
"Vielleicht nimmst du etwas wahr, das die anderen nicht wahrnehmen können ... oder nicht bewußt wahrnehmen können."
"Was glaubst du - warum könnte ich dazu imstande sein?"
"Deine eigenen Erfahrungen sind es, das sind dann immer die eigenen Erfahrungen", meinte Tain. "Selbst wenn die anderen auch solche Erfahrungen haben - das Besondere ist, daß du einen Zugang zu diesen Erfahrungen hast, der den anderen womöglich fehlt."
"Das heißt, ich kann etwas sehen, wenn andere geblendet sind."
"Offenbar, ja."
"Was meine eigenen Erfahrungen betrifft, es kann sein, daß ich selbst als Kind angegriffen worden bin, aber niemand weiß etwas darüber, auch ich nicht."
"Wie kommst du dann darauf?"
"Es ist ein Grundgefühl, mich abgrenzen und verteidigen zu müssen, und das kommt gewiß nicht von ungefähr."
"Und wogegen willst du dich verteidigen?"
"Gegen Grenzüberschreitung, auch gegen subtile Grenzüberschreitung."
"Was soll das denn sein?"
"Mißachtung des Individuums."
"Wer hat dich denn mißachtet?" wollte Tain wissen.
"Dazu habe ich keine Informationen", antwortete Katharin. "Es ist wahrscheinlich so, daß das, was mich gezeichnet hat, so alltäglich gewirkt hat oder als so alltäglich verkauft worden ist, daß ich mich daran nicht erinnere. Außerdem liegen diese Ereignisse wahrscheinlich sehr lange zurück.
Wenn man mich fragen würde nach meinen eigenen Erfahrungen mit dem absoluten Bösen, würde ich es beschreiben als etwas Nebulöses, Unfaßbares, das sprachlos macht, das nicht benennbar ist - als würde es zu einem 'wortfreien Raum' gehören."
"Und was machst du mit diesen Erfahrungen, von denen du nicht einmal weißt, woraus sie bestehen?"
"Für mich geht es darum, immer darauf zu achten, daß ich nur das tue, was ich wirklich will, und daß ich mir selbst immer treu bleibe."
"Hast du denn auch etwas Böses erlebt, an das du dich erinnern kannst?"
"Sehr viel, unter anderem Intrigen", erzählte Katharin. "Aber das Gefühl, dem absoluten Bösen begegnet zu sein, war vorher schon da."
"Und das Gefühl behältst du bis an dein Lebensende?"
"Es gibt eine Veränderung, seit ich dich kenne. Ich fühle mich seltsam unverletzbar, obwohl ich weiß, daß es nicht so ist. Und ich habe eine nicht endende Zuversicht."
"Was habe ich denn damit zu tun?"
"Ich glaube, du kannst die Macht des Bösen brechen."
"Wie kommst du darauf?" fragte Tain. "Ich bin nicht gut."
"Vielleicht tust du es nicht bewußt, nicht absichtlich, vielleicht einfach nur, weil du das in mir siehst, was ich bin. Dadurch kann ich sehen, wer ich wirklich bin, ohne die Schatten in der Vergangenheit."
"Du machst mehr aus mir, als ich sein kann."
"Zwischen uns ist eine Innigkeit, eine Verbundenheit, die ich noch niemals erlebt habe."
"Ich liebe dich nicht, das habe ich dir schon gesagt."
"Immerhin hast du mich angerufen, um zwei Uhr nachts."
"Weil ich mit dir reden will."
"Was ist es, über das du reden willst?"
"Wen willst du mehr, mich oder den Längsgestreiften?"
"Das könnte die Lösung des Rätsels sein", vermutete Katharin, "der Längsgestreifte - vielleicht bist du das."
"Ich bin nicht längsgestreift."
"Du sitzt in der gläsernen Litfaßsäule, und jeder kann dich sehen."
"Aber erreichen kann mich keiner", sagte Tain mit einem Lächeln in der Stimme. "Und das ist gut so."
"Soll ich noch mehr von dem 'wortfreien Raum' erzählen?" fragte Katharin. "Oder bist du zu müde dazu?"
"Erzähl' ruhig, ich bin meistens nachts wach."
"Also ... Es gibt Gewalttaten, die man nicht beschreiben kann, weil es keinen Begriff dafür gibt. Sie erreichen eine Ebene in uns, die vor der Erinnerungsfähigkeit liegt und vor der Fähigkeit, etwas in Worte zu fassen und es damit zu fassen. So lange man sich in diesem 'wortfreien Raum' aufhält, gibt es keine bewußte Erinnerung an das Geschehen. Subtile Formen der Grenzüberschreitung bemerke ich als reines Gefühl, als Bedrängnis, Unwohlsein, das Bedürfnis nach Selbstverteidigung. Es tauchen Erinnerungen in mir auf, die lediglich als Empfindungen vorliegen, Erinnerungen an Geschehnisse im 'wortfreien Raum'. Wenn ich versuche, mein Gefühl bei der Begegnung mit Sanso Vernel in Worten darzustellen, kommt etwas heraus, das in der Fachwelt als unerhört, ja blasphemisch angesehen würde. Ich darf also nicht ehrlich sein, wenn ich innerhalb der Fachwelt darauf angesprochen werde. Und - nicht zu vergessen - auch der Patient darf nicht ehrlich sein. Er wäre in diesem Fall genötigt, seine innere Abscheu gegen den doch offensichtlich freundlichen und hilfsbereiten Therapeuten als Zeichen eigener Unausgeglichenheit und Schuldhaftigkeit zu betrachten. Dadurch gleitet er abermals in die Rolle des 'Opfers aus eigener Schuld', der Teufelskreis bleibt bestehen. Erkennbar wird dieser verhängnisvolle Mechanismus äußerlich oft gar nicht, auch ein 'Therapieversagen' oder 'Abbruch' kann damit nicht in einen sicheren Zusammenhang gebracht werden und hat meistens andere Ursachen. Was in Wirklichkeit zwischen Patient und Therapeut abgelaufen ist, bleibt unausgesprochen und unsichtbar. Ein Mantel des Schweigens liegt über den subtilen, zumeist unbewußten Grenzüberschreitungen durch die Helfenden. Damit ist auch gesagt, daß die Helfenden selber ihr Verhalten sehr wahrscheinlich nicht bewußt erkennen und auch nicht bewußt beabsichtigen. Es ist vorstellbar, daß diese Helfenden ihr grenzüberschreitendes Verhalten auch nur gefühlsmäßig und insgesamt unbewußt erleben. Es könnte ein wohliges Gefühl sein, ein Gefühl des Besiegt-Habens oder eine Überhöhung des Ich durch die Erniedrigung des anderen, verbunden auch mit erotisierten Empfindungen, das den Helfenden dazu treibt, immer wieder nach 'Opfern' zu suchen.
Opfer von Mißhandlungen sind Gezeichnete, die die Tat in sich tragen, und die Tat bleibt an ihnen wahrnehmbar, und wenn jemand danach sucht, kann er die Spuren finden.
Viele Opfer erleben ihre fehlgeleitete Bestätigung darin, immer neue Täter zu finden, die ihnen immer dasselbe antun. Dieser Umstand könnte sie in die Arme nach Opfern suchender Täter treiben.
Wenn dieses Opfer-Täter-Verhältnis unter dem Vorzeichen der Therapie stattfindet, ist die Wirkung wahrscheinlich so ähnlich, als wenn das Opfer sich nach erlebtem Mißbrauch erneut in eine mißbräuchliche Beziehung begibt oder auch den Kontakt zum Täter selbst weiterhin aufrechterhält. Mißbräuchliches Verhalten beginnt mit dem Befriedigungswunsch des Täters bei Begegnung mit dem Opfer. Das Verhalten des Täters zeigt sich in Nuancen seiner Stimme, seiner Mimik und Gestik. Nur das Gefühl allein ist scharf genug als Meßinstrument, um ohne sachliche Untermauerung das mißbräuchliche Verhalten anzuzeigen. Bei vielen Opfern bleibt diese Warnung vermutlich unbewußt oder wird umgedeutet, weil nicht sein kann, was nicht sein darf."
"Und du glaubst, daß ich das alles verstehe?" fragte Tain.
"Du verstehst das auf Anhieb", war Katharin sicher. "Wenn du meinst, es nicht zu verstehen, denkst du nur, daß du es nicht verstehst, aber du verstehst es doch. Das Licht in deinem Innern strahlt so hell; dir entgeht nichts."
"Und, was hat Vernel mit seiner Stimme deiner Meinung nach wirklich gesagt?"
"Er hat Folgendes gesagt:
'Ihr alle, die ihr um mich seid, seid meine kleinen Diener, ihr gehört mir und seid nur dazu da, mich zu befriedigen. Und wenn ich befriedigt bin, seid ihr neben mir, dem großen König, lauter kleine Könige und dürft mitregieren, bis ich wieder befriedigt werden muß. Und mich zu befriedigen ist höchstes Gesetz und zugleich höchste Ehre. Es gibt keine glücklicheren und besseren Menschen als euch, die ich erwählt habe, mir zu dienen.'
Hier drängt sich mir die Frage auf, weshalb solche Menschen sich dafür entscheiden, Mißbrauchsopfer zu behandeln. Meine Vermutung geht dahin, daß Täter und Opfer beide aufeinander eine gewisse Anziehungskraft ausüben, einen Wiederholungszwang, von dem ich eben schon geredet habe. Als Opfer kann man entweder eine tiefe Abneigung gegen alles aufbauen, was an den Täter erinnert, oder aber diesen Magnetismus oder beides gleichzeitig, und Opfer können auch zu Tätern werden. Die Voraussetzungen für jede dieser Entwicklungen sind aber sehr unterschiedlich.
Bei Tätern findet sich häufig eine destruktive Form des gestörten Selbstwertgefühls, man sagt auch 'maligner Narzißmus' dazu oder 'Psychopathie'. Es ist eine Mischung aus antisozialer Persönlichkeit - also angeborene Armut an Mitgefühl - und krankhaftem Geltungsbedürfnis, die diese Täterpersönlichkeiten kennzeichnen. In großen Dimensionen sind sie Diktatoren, in kleinen Dimensionen sind sie sadistische Familienmitglieder, perverse Partner, intrigante Kollegen. Der Schaden, den sie anrichten, ist in jedem Fall maßlos. In der Rolle des Therapeuten kommt Psychopathen eine besondere Art der Machtausübung zu, mit der sie sich aufwerten können. Die sozial erwünschte Fassade wird rein erhalten, das Böse wird in einer anderen Person untergebracht - der des früheren Täters, von dem das Opfer berichtet -, und der Therapeut gilt von vornherein als Helfer und Erlöser. Gedanken, die die Unfehlbarkeit des Therapeuten anzweifeln könnten, werden vermieden.
Das Unfaßbare lebt in den Menschen, Tätern wie Opfern. Es treibt die Täter an und quält die Opfer. Um dem Unfaßbaren eine faßbare Gestalt zu geben, haben die Menschen es benannt: 'das Böse', 'der Satan', 'der Gottseibeiuns' ...
Das Böse wird von Menschen an Menschen weitergegeben, und wen es trifft, der ist gefährdet, sich von sich selbst zu entfremden."
"Und welchen Schluß ziehst du daraus?"
"Manch ein Opfer, das zum Täter wird, tut etwas, das zu seinem Wesen eigentlich nicht paßt. Auch Menschen, die nicht grundsätzlich antisozial sind, können zu Tätern werden, etwa wenn sie Mitläufer sind, in abhängigen Beziehungen leben und dergleichen. Das entschuldigt die Täter nicht, aber es liefert Erklärungen."
"Warum beschäftigst du dich immer mit solchem Zeug?"
"Es ist wichtig", meinte Katharin. "Es geht uns alle an. Das Böse ist überall und kann mitten unter uns sein."
"Aber immer an sowas denken ...?"
"Nicht immer", betonte Katharin. "Das ist nur eine Momentaufnahme, aus aktuellem Anlaß. Wir sehen uns so selten und haben dann meistens auch nur sehr wenig Zeit, um uns auszutauschen, und da kann ein verzerrtes Bild entstehen. Man braucht Zeit, um sich mitzuteilen."
"Wen siehst du denn, wenn du mich nicht siehst?"
"Hör' zu, Othello ... ich kenne das von dir schon ... du denkst immer, daß ich mit anderen etwas habe, nur weil du mir nicht treu bist und glaubst, ich bin genauso."
"Treu? Wir sind nicht zusammen."
"Der Grund für meine Treue ist meine Liebe zu dir."
"Dieses verlogene Zeug ... ich will ... das ... nicht ... hören", sagte Tain voll atemloser Wut. "Das ist ja ... unbeschreiblich, das kann ich gar nicht sagen, wie abartig ich das finde."
"Dann sage ich einfach nur, ich bin dir treu."
"Sag' lieber gar nichts mehr, sonst rege ich mich nur noch auf."
Katharin schwieg.
"Katharin?"
"Ja?"
"Ich dachte schon, du hast aufgelegt."
"Das tue ich nicht."
"Erzähl' mir noch was."
"Also ... wenn es noch etwas Düsteres sein darf?"
"Ja, erzähl', was du willst."
"Es gibt nichts Perfides, was sich nicht schon irgendwer ausgedacht hat, das ist mein Fazit, nach allem, was ich weiß", fuhr Katharin fort. "In Unrechtsstaaten, wo es Folterungen und Hinrichtungen gibt, wird dieser Bereich häufig an Fremdfirmen abgegeben, weil diese kostengünstig mit Honorarkräften arbeiten und sogar unbezahlte Mitarbeiter beschäftigen, die im Gegenteil noch dafür bezahlen, daß sie dort arbeiten dürfen. Unter denen sind auch welche, die sich foltern lassen und dafür bezahlen. Und von all dem gibt es Videos."
"Guckst du Foltervideos?"
"Es gab mal ein Konzert in einer Spelunke, das habe ich verlassen, weil die solche Videos gezeigt haben."
"Warum warst du überhaupt auf diesem Konzert?"
"Weil ich mit so etwas nicht gerechnet habe. Skurril war die Band, das wußte ich, aber sowas ..."
"Woher hast du dein Wissen, wenn du die Videos nicht anschaust?"
"Aus vielen verschiedenen Quellen", erklärte Katharin. "Eine hohe Zahl voneinander unabhängiger Quellen macht Berichte objektiver. Das Thema ist auch Gegenstand der Forschung."
"Und mit sowas beschäftigst du dich ..."
"Nicht nur, wirklich nicht. Aber diese Geschichte mit Vernel hat das alles wieder hochgeholt."
- - -
"Siehst du, und hier haben sie die Autobahn einfach nicht weitergebaut", sagte Katharin zu Tain, während sie nach einem Regenschauer auf einem unbefahrenen Teilstück spazierengingen. "Diese Abzweigung liegt seit über zehn Jahren im Dornröschenschlaf. Man kann noch ein ganzes Stück hinunterlaufen, und dann endet sie in einer Baustelle mit Schotterbergen, Sandhaufen und Schutt."
Die weiße Fahrbahnmarkierung fehlte, die Strecke war aber fertig asphaltiert, und der Mittelstreifen war mit Gossenwürfeln aus Beton eingefaßt.
"Hier ist doch bestimmt nie jemand", sagte Tain nachdenklich. "Vielleicht ist hier wirklich seit zehn Jahren keiner mehr gewesen. Wofür haben die das nur gemacht, das alles, wenn es doch nie genutzt wird?"
"Das Geld war alle. Und jetzt verwildert das Gelände."
"Da vorn kann man bald Himbeeren ernten."
Die Sonne schien durch den Nebel und ließ die Regentropfen auf den Dornenranken glitzern.
"Wir sind wenigstens da, wir können zum Ernten kommen", meinte Katharin. "Das ist so schön, daß ich mit dir hier entlanggehen kann."
"Und ich werde dich immer wieder enttäuschen."
"Das weiß ich."
"Warum triffst du dich dann noch mit mir?"
"Weil mir die Augenblicke mit dir keiner mehr wegnehmen kann."
"Aber sie vergehen doch. Sie bleiben dir doch nicht."
"Alles vergeht", sagte Katharin und ließ ihren Blick wandern über die blühenden Ranken der Heckenrosen auf dem Mittelstreifen, den Asphalt, auf dem dunkelgrauer Schotter verstreut lag, und die aufgestapelten Leitplanken, die nicht mehr verbaut worden waren. "Wenn ich diese Strecke vor mir sehe, muß ich an die vielen Tiere denken, die dort hinten neben der Autobahn liegen. Ich sehe sie jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit. Ich kann sie nicht vergessen. Und wenn mir auch eines vors Auto läuft, wird es noch schlimmer. Damit werde ich nicht fertig."
"Du hast es nicht in der Hand. "
"Ich weiß, daß ich nichts dafür kann, und doch ..."
"Du hast keine Schuld an etwas, das du nicht verhindern kannst."
"Und ich fühle mich doch schuldig."
"Du hast ein Gewissen. Du hast Verantwortungsgefühl. Was willst du denn noch alles von dir verlangen? Willst du von dir verlangen, das Unabänderliche zu ändern? Wenn du von dir etwas Unmögliches forderst, wirst du dir immer Vorwürfe machen."
"Du hast recht, in jeder Hinsicht. Und doch, die Trauer läßt mich nicht los ... das weite Land - ein Gräberfeld, so viele Wesen, an die sich keiner erinnert."
"Vielleicht kommt ein Tag, da kannst du die Toten in Ruhe schlafen lassen."
Katharin pflückte von den Heckenrosen einige Blüten ab und legte sie auf eine Betonplatte am Straßenrand.