Elfer raus!
.
Ende März 2002. Trügerisches Sonnenlicht.
Katharin fuhr in der Morgendämmerung über eine Hochstraße zu einem Gewerbegebiet am Stadtrand. Nach frühlingshaften Wochen war es noch einmal kalt geworden. Hinter den blaßgrauen Umrissen der Bürohäuser leuchtete der Himmel in Rosa und Orange. Auf dem Asphalt glitzerte Rauhreif.
"Es ist eine sirenenhafte Schönheit", sagte Katharin zu Staale. "Ich muß immer da hinsehen und muß doch eigentlich auf den Verkehr achten. Dieses neblige rosa Licht ... und dann die vielen Straßenlaternen und die Strahler an den Häusern ..."
"Jetzt gehen die Laternen aus."
"Wenn ich das so sehe, ist es, als will es mir etwas sagen, als wenn es etwas gibt in diesem Leben, das noch auf mich wartet. Es ist, als wenn ich den Weg, den ich suche, doch noch finden soll."
"Mein Weg heißt 'Bescheidenheit'. Ich war früher so eingebildet ..."
"Das habe ich gar nicht so in Erinnerung."
"Doch, ich war sehr überheblich", meinte Staale. "Heute gebe ich mir Mühe, nicht mehr so eingebildet zu sein. Aber angeben muß ich immer noch."
"Manchmal bin ich auch nicht viel besser", meinte Katharin. "Grauer Daimler mit Automatik, das muß sein. Und das farblich passende Lenkradfell. Und ich fahre ungerne langsam. Auch wenn mir bewußt ist, daß der Tod mitfährt. Manchmal stelle ich mir vor, wie er neben mir sitzt in seiner schwarzen Kutte und Bemerkungen macht über die Fahrweise der Verkehrsteilnehmer."
"Der Tod begleitet uns immer, nicht nur auf der Autobahn."
"'Mitten in dem Leben sind wir von Tod umfangen. Wer ist's, der uns Hilfe bringt, daß wir Gnad' erlangen?' - 'Media vita' aus dem 9. oder 10. Jahrhundert."
"Wann hast du eigentlich Runi zum letzten Mal gesehen?"
"Vor etwa zwei Jahren", erzählte Katharin. "In einem Lastenaufzug in Rhohausen; ich weiß nicht, was die da wollte. Auf einmal kam sie in diesen Lastenaufzug."
"Und was war dann?"
"Sie war so freundlich ... zum Würgen ... mich schaudert immer noch, wenn ich daran denke ... wie sie sich vor mir verneigt hat ... unterwürfig, das ist das richtige Wort. Es gibt keine Grenzen für Runi. In dem Lastenaufzug hatte ich nicht viel Platz zum Ausweichen. Und bis zum Erdgeschoß war es weit."
"Hat sie etwas gesagt?"
"Sie hat gemeint, die kleine Auseinandersetzung damals, das komme doch häufig so vor unter Teenagern, die sich erstmal beweisen müßten. So, wie ich sei, das sei doch einmalig, das würde sie doch bewundern, und daß man sich hier wiedertrifft. Und sie näherte sich mehr und mehr ... Aufdringlichkeit ist so abstoßend ... das muß man erstmal zu beschreiben versuchen."
"Runi und Gangolf haben inzwischen Ärger bekommen wegen ihres Engagements für Digital Dignity Doom."
"Tatsächlich ... Besser spät als nie."
"Das hindert Gangolf nicht daran, als Kursleiter tätig zu sein."
"Da gab es doch mal so einen vorbestraften Motivationstrainer", fiel Katharin ein. "Der wollte aller Welt zum Erfolg verhelfen und war mustergültig dissozial. Der wußte wirklich, worauf es ankommt."
"Gangolf veranstaltet Rhetorik-Schulungen, das geht in eine ähnliche Richtung."
"Stimmt, der bildet ultrarechte Wortführer aus", nickte Katharin. "Und das ist keineswegs alles. Über Gangolf habe ich gerade etwas geschrieben. Im Handschuhfach ist der Ausdruck."
Staale nahm sich den Zettel und las den Text:
Gangolf Manthey entspricht dem Typ des jungen Leitwolfs, intelligent und charismatisch, mit herausragenden manipulativen Fähigkeiten und ausgezeichneten Kenntnissen über totalitäre Systeme und ihre geschichtlichen Hintergründe. Er läßt sein Gegenüber möglichst selten zu Wort kommen, um zu verhindern, daß eine Gegenargumentation aufgebaut wird. Mantheys eigene Argumente sind in sich nicht schlüssig, werden aber so aggressiv und mit so viel innerer Überzeugung vorgetragen, daß es schwierig ist, diesen roboterhaft eingeübten Wortsturm mit gezielten Argumenten zu durchbrechen. Gegenargumente werden von Gangolf entweder nicht wahrgenommen oder ignoriert oder umgebaut, indem sie verdreht werden. Er arbeitet sogar gezielt mit scheinbaren Gegnern, die er vor versammelter Mannschaft belehrt und von seinen Ansichten überzeugt. Durch diese Vorgehensweisen ist Gangolf in der Lage, Ideologien zu verbreiten und größere Gruppen auf eine von ihm vertretene Linie einzustimmen.
Um welche Ideologie es im Einzelnen geht, ist für Gangolf weniger bedeutsam; entscheidend ist, daß totalitäre, ideologisch gesteuerte Systeme vertreten werden. Das können politische Systeme sein, ebenso aber auch Sekten, Firmen mit totalitärer Struktur oder gewalttätige Gruppierungen. Vor allem in großen Firmen greifen totalitäre, sektenähnliche Strukturen immer mehr um sich. Die Beschäftigten werden überwacht bis ins Privatleben hinein. Sie werden genötigt, der Firmenführung zuzujubeln wie einem Sektenguru und sich nach festen Ritualen in kollektive Begeisterungsausbrüche zu versetzen. Wer beim Zwangsjubeln und der erzwungenen Gutlaunigkeit nicht mitmacht, wird hinausgeworfen. Das Arbeitsrecht kann diesem Firmen-Totalitarismus nur selten etwas entgegensetzen.
Gangolfs Argumentation richtet sich letztendlich immer gegen die Menschenrechte, im engeren oder weiter gesteckten Rahmen. Es geht darum, dem Einzelnen die Möglichkeit zu verwehren, sich gegen die Außenwelt abzugrenzen. Das Individuum darf nicht als Individuum bestehen bleiben; es soll gebrochen werden, verfügbar und willenlos gemacht werden. Im engeren Rahmen betrifft das den Mißbrauch von Kindern, im weiteren Rahmen die Mißhandlung von abhängig Beschäftigten und staatlich angeordnete Folter. Die Art der Störung ist bei den Tätern jeweils dieselbe: Neigung zur Grenzüberschreitung zum eigenen Lustgewinn.
Grenzüberschreitungen zum eigenen Lustgewinn sind das, was wir in unserer Forschung als "das absolute Böse" bezeichnen. Das "Böse" wird vom Täter an das Opfer weitergegeben, das daraufhin willenloses Werkzeug des Täters werden kann, ebenso auch Folgetäter oder Täter an sich selbst. Die Grenze zwischen Täter und Opfer verschwimmt. Die Ungeheuerlichkeit der Tat und ihre meistens fehlende Bestrafbarkeit, durch fehlende Greifbarkeit des Täters und das Fehlen von Hilfe, führt häufig zu einer Umkehr der Täter-Opfer-Beziehung. Das Opfer sucht ausgleichende Gerechtigkeit, und weil diese in der Wirklichkeit nicht erreicht werden kann, entlastet es den Täter und sucht die Schuld bei sich selbst oder bei Schwächeren, die es stellvertretend "bestrafen" kann. Wertmaßstäbe werden entweder nicht aufgebaut oder wieder vernichtet. Es kann so weit kommen, daß das Opfer sich mit dem Täter verbündet oder die Tat als Wohltat verdreht.
Wenn ein Mensch von Anfang an daran gehindert wird, sich gegen die Außenwelt abzugrenzen, lernt er nicht, sich als eigenständige Person zu erleben. Er wird zum formbaren Gegenstand ohne Eigenschaften. Die Persönlichkeit wirkt unreif und haltlos, ohne feste Grenzen und Struktur. Nach einem Sinn des Daseins wird vergebens gesucht, weil es kein eigenes, abgegrenztes Dasein gibt. Wenn aber das Individuum die Gelegenheit hat, ein inneres Gerüst und ein unabhängiges Wertsystem aufzubauen, kann es sich selbst gegen Vereinnahmung und Grenzüberschreitungen schützen und verteidigen.
"Das läßt sich endlos erweitern", meinte Staale. "Das Kapitel 'Grenzüberschreitungen' ist uferlos. Wir können nicht erwarten, daß wir dieses Kapitel jemals vollständig erfassen und begreifen werden."
Staale bat Katharin, von der Schnellstraße abzufahren.
"Wo soll es hingehen?" fragte sie.
"Zur Halle", antwortete er. "Wir haben sie gekauft und renoviert. Jetzt ist sie fertig."
Das rosafarbene Leuchten der Dämmerung war stumpf geworden. Im Gewerbegebiet fuhr Katharin eine Straße entlang, in der sich halbhohe Gebäude aneinanderreihten, mit schieferfarbenen Faserzement-Platten verblendet. Hinter den Fenstern schimmerten silbrige Jalousien. Die Büros wirkten verwaist. Zu ebener Erde schauten künstliche Narzissen durch die verstaubten Scheiben.
Gegenüber stand eine ehemalige Fabrikhalle, aus dunkelroten Backsteinen gemauert, die der Nebel in einen grauen Schleier hüllte. Am Zaun ragten speerförmige Pappeln in den Himmel, aufrecht und mit kahlen Zweigen, wie stumme Wächter. Die Halle war hoch und weit, ihr Ende in dem Dunst kaum zu sehen. Die Fenster waren schmal und hatten Metallstreben. Auf Katharin wirkte die Halle verwunschen, vielleicht auch, weil das Mauerwerk an einigen Stellen berankt war, bis hinauf ans Dach.
Die Einfahrt an der Stirnseite war frisch gepflastert. Das Tor war zu einem verglasten Portal umgestaltet worden. Staale betätigte mit einer Codekarte eine Schließvorrichtung, so daß die Schiebetür aufsprang. Durch die hohen Fenster fiel mattes Licht in die grauschwarze Dunkelheit der Halle. Der Boden war mit frischem Estrich bedeckt, glatt und etwas sandig. Die Halle war eine Stahlkonstruktion. Es gab zwei Reihen von Säulen. In halber Höhe schwebten Plattformen aus dünnem Stahl auf den Trägern, die zierliche Geländer hatten. Unterm Dach gab es eine mäanderförmig umlaufende Fensterreihe, vor der man auf einem Gitter entlanggehen konnte. Zu diesem Gitterweg kam man hinauf über schmale stählerne Treppen.
Staale ging mit Katharin bis zum anderen Ende der Halle. Ihre Schritte waren in der Weite kaum zu hören. Der Weg dauerte länger, als Katharin sich vorgestellt hatte.
Acht gleiche Betonsockel standen vor der hinteren Stirnseite in einer Reihe. Staale ging mit Katharin zu dem linken, auf den ein schwarzer Kasten gestellt worden war, schlicht, aus schwerem Holz. Als Katharin näher kam, sah sie, daß fremdartige Zeichen mit Kreide auf den Kasten geschrieben waren.
Staale war die ganze Zeit über schweigsam gewesen. Hier vor dem Kasten jedoch schien er das, was ihn beschäftigte, nicht mehr für sich behalten zu können und zu wollen.
"Von Saroud hatte ich dir ja erzählt", begann er, "und was Lanwer damit zu tun hat."
"Ja."
"Hatte ich dir auch von Leen erzählt?"
"Leen Dayna? Von dem weiß ich nicht viel. War der nicht auch in Lanwer?"
"Ja, der ist mitgekommen nach Lanwer, wenn auch später als vorgesehen", sagte Staale mit brüchiger Stimme. "Jetzt müssen wir auch hier unten von ihm Abschied nehmen. Und ich frage mich, wie oft es vorkommt, daß Trauerredner in Tränen ausbrechen, die die Verstorbenen gar nicht gekannt haben. Aber das gehört eigentlich nicht hierher.
Leen hat vorübergehend für mich gearbeitet, das waren nur wenige Jahre. Du hast ihn gar nicht mehr kennengelernt. Wir wußten schon damals, als er zu uns kam, daß er uns bald wieder verlassen wird. Tain hat gesagt, es wäre eigentlich Verschwendung gewesen, Leen eine umfangreiche Ausbildung zukommen zu lassen; er hätte die Kosten und den Aufwand doch in der kurzen Zeit, die er zu leben hatte, durch seine Leistung niemals wieder ausgleichen können."
"Und was sagst du?"
"Ich sage, daß wir nicht bestimmt sind, zu richten über die Dauer und den Wert eines Lebens."
"Tain hat Leen wohl nicht für besonders wertvoll gehalten?"
"Ich denke, Tain hält sich selbst nicht für besonders wertvoll."
"Wie alt ist Leen geworden?" erkundigte sich Katharin.
"Neunundzwanzig", antwortete Staale. "Ich habe mir nicht vorstellen können, daß Leen so bald schon gehen muß. Eigentlich habe ich es nie geglaubt und es auch nicht glauben wollen. Es war ihm auch nicht anzusehen. Leen war immer belastbar und erreichbar, hat wenig geschlafen und dazu geneigt, Verantwortung an sich zu reißen. Er hat gedacht, er verschwendet Zeit, wenn er sich ausruht. Er hatte so viel zu geben und wollte noch viel mehr geben und wußte, er schafft es nicht."
"Weshalb mußte er denn schon so früh gehen?"
"Leen stammt aus einem Labor, und da ist irgendetwas schiefgelaufen."
"War er gar kein Mensch?"
"Ich denke, er war einer. Das kann man so oder so sehen."
"Hat es zwischen Tain und Leen Spannungen gegeben?"
Staale nickte.
"Das hat vor zweieinhalb Jahren angefangen", erzählte er. "Durch Zufall war Tain auf Leens Hilfe angewiesen. Tain kam damit nicht zurecht. Er kam nie damit zurecht, auf irgendwen angewiesen zu sein. Ich habe damals entschieden, daß Leen alles veranlassen sollte, was notwendig war, um Tains Leben zu retten. Das ist auch so geschehen - erst in einer Transporteinheit und dann auf Saroud. Tain wollte eigentlich viel eher nach Lanwer, mußte dann aber umkehren und zurück nach Saroud gebracht werden. Leen kam mit ihm. Tain hat einen exzessiven Haß auf Leen entwickelt. Seltsamerweise hat sich Tains Haß nie gegen mich gerichtet, obwohl ich es war, der Leen beauftragt hat. Tain hat in Leen seinen Widersacher gesehen, und dabei blieb es."
"Warum konnte Tain keine Hilfe annehmen?"
"Tain vertraut nicht", meinte Staale. "Er kann es wohl auch nicht."
"Und wie war das in Lanwer?"
"Tain und Leen sind nicht gleichzeitig nach Lanwer gekommen. Sie sind sich hier fast nie begegnet, soweit ich weiß. Auseinandersetzungen soll es zwischen ihnen in Lanwer nicht gegeben haben. Ich vermute, daß Tain sehr darauf geachtet hat, Leen nicht zu treffen."
"Und Leen, wie hat der sich verhalten?"
"Er hat nichts unternommen, um den Abstand zu verringern oder zu vergrößern."
Staale nahm ein Stück Kreide und schrieb Zeichen auf den schwarzen Kasten, die Katharin nicht lesen konnte.
"Glaubst du, es gibt noch etwas nach dem Tod?" fragte Katharin.
"Die Unendlichkeit hat viele Stockwerke", meinte Staale.
Abends fand Katharin in ihrem Postfach eine E-Mail von Staale. Der Text lautete:
Dies ist ein Bericht über die Ereignisse vor sechs Wochen.
Es war ein warmer Nachmittag, für den Februar eigentlich zu warm. Leen und ich waren bei Bekannten zu Besuch, Zinnia und Talis. Im hellen Sonnenlicht haben wir auf dem Balkon an einem Tisch gesessen. Der Balkon ist eher eine Terrasse, sehr weitläufig und mit Betonplatten ausgelegt. Hinter dem Geländer beginnt das Dach der Tiefgarage. Man hörte einen Vogel singen, eine endlose, monotone Folge, eher wie ein elektronisches Läuten.
Am Tisch hatten wir ein seltsames Thema. Es ging um die Frage, ob es Sinn hat, wenn jemand für einen anderen in den Tod geht.
"Dann ist doch immer einer tot", meinte Talis, "und wie soll man entscheiden, wer es eher verdient hat, zu leben?"
"Und der, der tot ist, woher soll der noch wissen, ob er dem anderen damit wirklich geholfen hat?" fragte Zinnia. "Außerdem kann er ihm von nun an in keiner Weise mehr helfen, weil er eben nicht mehr da ist."
"Und ich frage mich, ob jemand, der bei klarem Verstand ist, das über sich bringt, sein Leben wegzugeben", fügte ich hinzu.
"Ich glaube, daß man sich nicht vornimmt, für einen anderen zu sterben", sagte Leen. "Es kommt die Zeit, da fällt die Entscheidung ganz selbstverständlich."
"Es ist doch sinnvoller, für jemanden am Leben zu bleiben, als für jemanden zu sterben", meinte Zinnia.
"Das stimmt", nickte Leen.
Zinnia brachte frischen Kaffee. Dann holte sie Hefeschnecken aus der Küche und erklärte, wie sie gemacht werden:
"In den Teig darf nur wenig Zucker, denn der Guß besteht aus Puderzucker und frisch gepreßtem Zitronensaft. Und innen sind Mandelsplitter, Butter, Zimt und Zucker."
"Woher hast du das eigentlich?" erkundigte sich Talis.
"Das gab es früher schon sonntags zum Kaffee", erzählte Zinnia.
"Hefeschnecken sind allemal ein besseres Thema als irgendwelche Toten", meinte ich. "Laßt uns von diesen schauerlichen Geschichten wegkommen."
"'Elfer raus!'", sagte Zinnia. "Wir könnten nachher noch 'Elfer raus!' spielen. Ich habe mich vorhin wieder an dieses Spiel erinnert und es im Schrank sogar noch gefunden."
Es handelt sich um ein Kartenspiel mit aufgedruckten Zahlen von 1 bis 20, die in der richtigen Reihenfolge aneinander- oder übereinandergelegt werden müssen. Mit der 11 fängt man bei jeder Farbe an. Wer keine Karte zum Anlegen hat, muß eine vom Stapel ziehen.
Wir waren bei der fünften Runde "Elfer raus!", als die kahlen Baumstämme sich rot färbten. Die frühe Dämmerung erinnerte daran, daß der Winter noch lange nicht vorbei war.
Vor zwei Tagen hat Zinnia in Lanwer angerufen und mich gebeten, sogleich zu ihrer Wohnung zu fahren. Sie öffnete die Tür in einem schwarzen Kleid, die Haare mit schwarzen Bändern gerafft. Ohne ein Wort führte sie mich in ihr Hinterzimmer und ließ mich hineingehen. Ich sah einen fast leeren Raum, nur eine Chaiselongue stand darin, vor einem gekippten Fenster. Draußen bewegte sich ein Zweig im Wind, weiß blühend, ein Gebilde aus Licht. Ich hörte wieder dieses monotone Lied, wie ein elektronisches Läuten.
Ich schaute mich nach Zinnia um, und sie nickte.
"Heute früh", sagte sie.
Mir fiel ein, daß Leen sich morgens bei mir abgemeldet hatte; er konnte nicht nach Lanwer kommen, wollte aber nachher wieder anrufen. Das war erst wenige Stunden her.
Zinnia berichtete, daß Leen bei Talis und ihr zum Frühstück gewesen war. Talis fuhr danach weg. Leen sagte, er sei müde. Er rief in Lanwer an und ging in das Zimmer mit der Chaiselongue.
Zinnia hat ihn dort gefunden. Sie hat alles getan, was zu tun war, ohne Aufblicken, wie unter dem Zwang, beschäftigt sein zu müssen.
Tain hat es einen Tag später erfahren. Er hat nichts dazu gesagt.