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Novembermorgen
November 2009. Eine unerwartete Begegnung mit unerwarteten Folgen ...
Die Straßenlaternen konnte man im Nebel kaum erkennen, sie waren bereits ausgeschaltet. Ein weitläufiger gepflasterter Parkplatz öffnete sich in ein grauweißes Nichts.
Es war ein Sonntagmorgen im November. Das Gewerbegebiet lag menschenleer und verlassen. Katharin hörte kaum mehr als ihre Schritte; das Rauschen der nahen Autobahn und das Läuten der Kirchenglocken klangen gedämpft durch den Nebel. In dieser verwunschenen Welt fand Katharin ihre Wirklichkeit. Sie fühlte sich hier zugehörig, hier zu Hause.
In einem Gebäude gab es ein Loft, das zu Lanwer gehörte. Es war eine Art Atelier und zugleich eine Ausstellung. Der Saal war weitläufig und nahezu quadratisch. Innen war er mit schwarzem Stein verkleidet, auch der Boden bestand aus schwarzem Stein. Die hohen, schmalen Fenster waren undurchsichtig verglast und verziert mit abstrakten Motiven in Grau und Schwarz. Im Saal herrschte mattes Licht, nur wenig verstärkt durch Halogenstrahler. Auf einem Steinsockel lag ein Gedächtnis-Buch, in dem konnte jeder sich verewigen mit Sprüchen, Bildern, Gedichten und Geschichten. Die Wände waren mit Papierbahnen behängt, und es gab Pinsel und grauschwarze Farbe.
Katharin zeichnete seltsame Humanoiden, einen nach dem anderen. In den grauschwarzen Gestalten ließ sich immer wieder jemand finden, der sie anschaute.
In Katharins Träumen stiegen manchmal solche Gestalten von den Papierbahnen herunter, und Katharin konnte mit den Schattenwesen reden. Sie erfuhr Lebensgeschichten, Lebensentwürfe und Lebensträume. Einige dieser Schattengestalten hätten im Nachhinein manches anders machen wollen, wenn sie nur mehr über sich gewußt und mehr auf ihre Gefühle und Wünsche gehört hätten.
Katharin hoffte, in ihren Träumen auch Tain wiederzutreffen. Daß sie ihm nicht begegnete, führte sie darauf zurück, daß er nicht über sich selbst und sein Leben sprechen wollte. Vielleicht war es für ihn zu quälend, sich vor Augen zu führen, was er alles verschenkt hatte.
Geschenke hatte das Leben auch jetzt noch für Katharin. Erst vor Kurzem hatte sie mit ihrer Schwester Constri ein Videoprojekt abschließen können. Der Saal mit den vielen gezeichneten Figuren bildete die Kulisse dazu. Auf dem glatten, spiegelnden Boden aus schwarzem Stein tanzte Katharin zu "Def by Delta" von The Delta, rhythmisch dahinfließender Progressive-Trance, meditativ, traumverloren. Katharin bewegte sich in Endlos-Pirouetten über den Boden, mit schwebenden Figuren, die zugleich mechanisch wirkten, ähnlich wie die eines Androiden.
Bei Filmprojekten ging inzwischen die Initiative fast ausschließlich von Katharin aus, so daß es nicht mehr selbstverständlich war, wenn Constri ihr half, eines fertigzustellen.
Katharin hängte gerade eine neue Papierbahn auf, da hörte sie jemanden rufen:
"Wer ist da? Wer ist da?"
Die Stimme klirrte in ihre Gedanken:
"Wer ist da? Wer ist da?"
Sie schaute um sich und sah einen hochgewachsenen Burschen im schwarzen Hemd, der mit neugierigen Blicken durch den halbdunklen Saal ging.
"Wer ist da?" fragte er wieder.
"Habe ich Migräne?" dachte Katharin. "Die Stimme hat eine Frequenz, die klirrt ... sie zerklirrt, was man denkt."
"Ich bin Katharin", gab sie Antwort, "und ich zeichne lauter Figuren. Du kannst auch welche zeichnen, Pinsel gibt es genug."
"Ich bin Tyron", stellte der Bursche sich vor. "Ich bin vom anderen Stern."
"Wo kommst du denn her?"
"Weißt du, was ... Lanwer ist?"
"Ja."
"Du weißt, daß Lanwer eine Außenstelle von Saroud ist."
"Ja."
"Du warst aber nie auf Saroud."
"Nein, aber ich arbeite in Lanwer ... unter anderem."
"Dann werden wir uns dort vielleicht noch begegnen, ich arbeite nämlich auch in Lanwer, wenn auch nur für ein paar Wochen. Ich wohne auf Saroud."
Katharin musterte ihn.
"Bist du draußen nur mit diesem Hemd herumgelaufen?" fragte sie. "In der Kälte?"
"Ich bin unvernünftig. Ich bin erwachsen, aber ich verhalte mich nicht so."
"Von der Sorte kenne ich noch mehr", seufzte Katharin.
"Malst du nur in Grau und Schwarz?" erkundigte sich Tyron.
"Das paßt zu meinem Inneren", erklärte Katharin.
"Zu mir paßt es auch", erzählte Tyron. "Ich bin in meinem Inneren tiefschwarz und abgründig."
"Das bin ich auch. Du siehst, meine Kleider sind ziemlich dunkel."
"Eigentlich fängt mein Leben erst an ... aber ich habe das Gefühl, eigentlich ist alles schon vorbei."
"Das kenne ich."
Tyron betrachtete Katharins Halsband und bemerkte:
"Kreuz, Herz, Anker."
"Glaube, Liebe, Hoffnung."
"Glaube, Liebe und Hoffnung können eine Falle sein", meinte Tyron. "Wer glaubt, wer liebt, wer hofft, kann viel eher angegriffen werden als jemand, der jeden Glauben, jede Liebe und jede Hoffnung aufgegeben hat."
"Ich leiste es mir. Es ist für mich ein Ausdruck von Freiheit."
"Wer ist denn schon frei in dieser Welt? Sind wir denn nicht vor allem das, was unsere Umwelt von uns erwartet?"
"Wenn man bereit ist, Opfer zu bringen, dann kann man es schaffen, man selbst zu sein."
"Ich will immer nur frei sein. Und ich will anderen dabei helfen, frei zu sein."
"Die meisten Menschen wollen vor allem ein einfaches und bequemes Leben haben", meinte Katharin. "Warum entscheidest du dich für einen schwierigen Weg?"
"Weil ich diesen Weg gehen will."
"Die meisten Menschen nehmen nur dann Mühe und Sorgen auf sich, wenn es um Anerkennung und Selbstdarstellung geht - und nicht, wenn es um andere Menschen geht."
"Ich glaube, die meisten Menschen wissen gar nicht, was sie wollen."
"Am liebsten gehe ich gar nicht mehr ins Bett", erzählte Katharin, während sie weitere Figuren zeichnete. "Ich will gar nicht mehr schlafen. Ich habe sowieso nicht die Träume, die ich haben will."
"Was für Träume willst du denn haben?"
"ich will Menschen begegnen, die ich in der Wirklichkeit nicht treffen kann."
"He, vielleicht bin ich auch nur ein Traum."
"Das bekommen wir doch heraus", meinte Katharin.
Sie schlang ihre Arme um Tyron und konnte feststellen:
"Du bist kein Traum."
"Haben die Figuren, die du zeichnest, mit den Träumen zu tun?" wollte Tyron wissen.
"Es geht um einen Toten", erklärte Katharin. "Ich finde keine Ruhe."
"Vielleicht ist es der Tote, der keine Ruhe findet."
"Woher weißt du das?" staunte sie über diesen Gedanken. "Bist du aus dem Jenseits?"
"Paßt eigentlich ... so düster und schattig, wie ich bin."
"Menschen mit Suchtkrankheiten sagen oft, daß sie nichts bereuen und alles noch einmal so machen würden, bis zum bitteren Ende", erzählte Katharin. "Aber die sind es nicht, die hier an den Wänden auftauchen. Das sage ich nur, weil mir das zu dem Toten einfällt, der vielleicht keine Ruhe findet."
"Je mehr die Menschen von der grundsätzlichen Richtigkeit ihrer Entscheidungen überzeugt sind, desto weniger können sie es sich leisten, daran zu zweifeln."
"Wie steht es mit dir?"
"Ich tue Dinge, von denen ich weiß, daß sie nicht gut sind ... daß sie nicht gut sind für mich und auch für andere", erzählte Tyron. "Ich nehme mir das heraus, weil ich glaube, ich kann dadurch vermeiden, erwachsen zu sein."
"Dann bist du doch sehr zufrieden."
"Warum bin ich dann so schattig?" fragte Tyron und schaute an sich herunter. "Ich verstehe mich manchmal selber nicht."
"Das ist ein weiterführender Ansatz", meinte Katharin. "Du hinterfragst dich und deine Haltung. Du könntest schon einer von den Leuten an diesen Wänden sein, denke ich."
Sie arbeitete an einer Gestalt, wollte den Gesichtsausdruck hinbekommen, die funkelnden Augen, alles in Grauschwarz. Als sie es geschafft hatte und sich umwandte, war Tyron fort, verschwunden wie ein schwarzer Nebel. Nur die Gestalt auf der Papierbahn war da und schaute sie an.
"Es ist doch so", kam ihr ein Gedanke, "Tyron ist eins von den Papierwesen. Nur ist er heute nicht im Traum, sondern wirklich in menschlicher Gestalt erschienen."
Die Vorstellung gefiel ihr, auch wenn sie nicht daran glaubte, daß so etwas möglich sein konnte.
Katharin wollte die Unterhaltung, die sie mit Tyron geführt hatte, im Gedächtnis-Buch niederschreiben. Als sie es aufschlug, fand sie auf der letzten beschriebenen Seite die Worte:
"Katharin, ich liebe dich! Tyron"
Darunter waren Kreuz, Herz und Anker gemalt.
- - -
Mitten in der Nacht klingelte das Telefon. Katharin hörte das Festnetz-Telefon immer, auch wenn sie schlief, und manchmal schlief sie noch, wenn sie den Hörer abnahm.
"Ja?" meldete sie sich.
"Hallo", kam es vom anderen Ende der Leitung.
Katharin fragte vorsichtig:
"Wer ist denn da?"
"Ach ... das weißt du nicht ... du hast mich also schon vergessen, Mann, Mann."
"Tain!"
"Ja, ich glaube, ich heiße Tain."
"Ich kann es gar nicht fassen ... da fragt man doch lieber nochmal nach ..."
"Das sage ich doch", erwiderte Tain mit betont sanfter Vorwurfshaltung. "Aus den Augen, aus dem Sinn!"
"Du konntest mir meine Liebe nie glauben", hielt Katharin dagegen. "Warum solltest du sie mir ausgerechnet jetzt glauben?"
"Richtig. Wenn man bedenkt, was du so treibst ... Du hast mit diesem ... Youngster über mich geredet, oder?"
"Ach, du meinst Tyron."
"Tyron heißt er also!"
"Da - läuft - nichts, falls du mal wieder eifersüchtig bist."
"Nichts!" rief Tain. "Ha! Liebesgeständnisse und innige Umarmungen sind also nichts!"
"'Hallo' sagen und sich mal eben drücken, das ist wirklich nichts."
"'Hallo' sagen und sich mal eben drücken ... so nennst du das also!"
"Wenn jemand 'Ich liebe dich' schreibt, heißt das in der Regel nicht mehr als 'Du bist nett' oder 'Hallo'."
"Und das bedeutet es auch, wenn du zu mir sagst: 'Ich liebe dich.'."
"Nein", widersprach Katharin mit müder Stimme. "Ich sage das nicht so daher. Ich liebe dich wirklich."
"Warum bringst du dich eigentlich nicht um? Dann könntest du doch für immer bei mir sein."
"Erstens kann ich mich darauf nicht verlassen ... und zweitens lebe ich sehr, sehr gerne."
"Auch ohne mich, wie man sieht!"
"Das Traurige ist, daß du dein Leben weggeworfen hast. Wir hätten noch so viel Zeit miteinander verbringen können ... wir hätten uns so schön streiten können ..."
"Du willst mich gerne weiter fertigmachen können, aha."
"Liebe kann man nicht beweisen, man muß an sie glauben", betonte Katharin. "Und wenn du mir nicht glaubst, kann ich dagegen nichts machen."
"Ach, dann soll ich dir wohl auch noch glauben, daß du diesen Youngster nicht liebst, obwohl du ihm um den Hals gefallen bist."
"Umarmt habe ich ihn nur, um festzustellen, ob er geträumt oder wirklich da ist."
"Ein Traum-Mann, hahaha ..."
"Also - daß ich dich nicht vergessen habe, kannst du schon daran erkennen, daß Tyron und ich über dich geredet haben."
"Gelästert habt ihr!"
"Nein. Ich muß mit ganz vielen Leuten über dich reden, weil ich die Sache mit dir sonst nicht verarbeiten kann. Was ich mit dir erlebt habe, würde mich erschlagen, wenn ich nicht mit ganz vielen Leuten darüber rede, und dann rede ich eben auch mit einem Youngster von Saroud darüber."
"Wie alt ist der denn eigentlich?"
"Ach, was schätze ich ... vielleicht sechsundzwanzig ... oder siebenundzwanzig ..."
"Nun gut ... ich gestehe ihm zu, auf dich hereinzufallen."
"Danke, das werte ich als Kompliment."
"Was hat er eigentlich, das ich nicht habe?"
"Er ist lebendig, Schatzi!"
"Und jung ist er, jung ..."
"Dein Problem ist nicht, daß du nicht jung bist", sagte Katharin trocken. "Dein Problem ist, daß du tot bist."
"Aber wenn man tot ist, hat man doch gar keine Probleme mehr."
"Du hast noch welche, du kommst nämlich im Tod nicht zur Ruhe."
"Woher weißt du das denn?"
"Tyron ist darauf gekommen."
"Ach, Tyron!"
"Und ich ... mache mir deswegen Gedanken, die auch mir keine Ruhe lassen."
"Ich bin im Leben nie zur Ruhe gekommen, da brauche ich im Tod auch nicht zur Ruhe zu kommen", sagte Tain fürsorglich. "Laß mir doch die Unruhe. Laß dich davon nicht beunruhigen."
Katharin hätte gerne noch weiter mit ihm telefoniert, doch der Traum zerfiel.
"Fassen wir zusammen", dachte sie. "Tyron gibt es wirklich, und ich werde ihn vielleicht wiedersehen, vielleicht auch nicht. Tain gibt es nicht mehr, aber ihm kann ich im Traum begegnen, und vielleicht kann ich ihm endlich all das erzählen, was ich ihm im Leben nicht mehr sagen konnte."
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zu: Blank & Jones - "California Sunset (Audionatica & Claude Staffieri Remix)"
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