zu: Rising Star - "Touch me (Sebastian Brandt Remix)"




Die Gezeichneten

"Don't get too close, it's dark inside.
It's where my demons hide."

(Imagine Dragons - "Demons")



2010 und die Jahre danach, losgelöst vom Zeitrahmen: Begegnungen für die Ewigkeit ...

Tain stand in einem Gemeinschafts-Waschraum, der mehr als siebzig Jahre alt sein konnte. Eines der Rauhglasfenster war gekippt. Es sah aus, als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen.
"Vielleicht bin ich in einem fremden Traum gelandet", dachte Tain. "Ich kann mir vorstellen, wer dahintersteckt."
An den Waschraum grenzte ein Saal, in dem vier Reihen aus jeweils zehn Stahlrohrbetten standen. Auf den Betten lagen grobe graue Militärdecken. Durch vier hohe Fenster schien hell das Sonnenlicht, erreichte aber nur das erste Drittel des langgestreckten Saales. Auf dem vordersten Bett, gleich neben dem Durchgang zum Waschraum an der Fensterwand, lag nicht die grobe graue Einheitsdecke, sondern es war mit feinem Batist bezogen, und eine lichtgraue, seidenweiche Fleecedecke war darauf ausgebreitet.
Tain betrachtete das Bett und stellte sich vor, wie er sich darauf fallen ließ.
"Nur das nicht", schreckte er aus seinen Gedanken hoch. "Niemals darf man sich fallen lassen ... man darf nicht einmal daran denken."
Durch den Anblick des Bettes drängten sich Erinnerungen auf. Tain wollte sie wegscheuchen und mußte erkennen, daß er zugleich an ihnen haftete und sie wieder und wieder an sich vorbeiziehen ließ.
Tain erinnerte sich an etwas, das sich vor elf Jahren auf Saroud ereignet hatte, im Kellergeschoß des Forschungszentrums in SalaRien.
"Immer SalaRien", dachte er. "Es läßt mich nicht in Ruhe, und ich kann nicht damit abschließen. Es ist wie ein Fluch. Es bedrängt mich immerzu. Nicht einmal im Tod bin ich davor sicher."
Tain ging wieder in den Waschraum, setzte sich auf eine Holzbank und suchte seine Zigarettenschachtel hervor.
"Es bringt mir nichts", dachte er, während er in den Ausguß im Steinboden aschte. "Es ist nicht wie früher."
An jenem Abend vor elf Jahren kehrte Tain von der Arbeit in der Raumfahrtbehörde Stellwerk zurück. Ihm war ein Zimmer in dem Forschungszentrum in SalaRien zugewiesen worden, und es wurde erwartet, daß er auch heute dort erschien. Je näher Tain dem Forschungszentrum kam, desto unsicherer wurde er, ob er in das Gebäude hineingehen sollte. Er setzte den Weg nur deshalb fort, weil er sich nicht auffällig verhalten wollte. Er überlegte, welche anderen Möglichkeiten ihm zur Verfügung standen. Wenn er zu seiner Wohnung in Birkwald fuhr, würden Sel Veey und die anderen ihn dort abholen. Wenn er zu seiner Verlobten Berenice fuhr, kämen sie auch rasch darauf. Wo immer er hinging, sie würden ihn in absehbarer Zeit entdecken - es sei denn, er verschwand in der eisigen Geröllwüste von Timyran, wo ihn ein qualvolles Sterben erwartete. Oder er machte seinem Leben ein halbwegs erträgliches Ende - was er immer wieder versucht hatte, jedoch war er stets gescheitert.
Tain wollte Zeit gewinnen und nahm den Weg durchs Kellergeschoß. Ihm begegnete niemand hier unten, er hörte nur das Sirren elektrischer Fahrzeuge aus einem Nachbarflur.
Tain blieb vor einer hohen Betonwand stehen und betrachtete die Details der stählernen Zarge eines Flügeltors. In diesem Bereich des Kellergeschosses waren die Flure weitläufig, beinahe wie Hallen, und es wehte ein kühler Luftzug.
Tain wünschte sich, mit der Zarge zu tauschen. Die Zarge konnte bleiben, wo sie war, und sie wurde in Ruhe gelassen.
Tain war hier unten allein, ganz für sich, aber er konnte durch die Überwachungskameras beobachtet werden. Wenn er hier blieb, anstatt hinaufzugehen in sein Zimmer, würden sie zu ihm herunterkommen. Wenn er durch einen schachtähnlichen Transportweg das Gebäude verließ, konnten sie ihn nicht beobachten, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn fanden.
Tain nahm ein Leuchtmittel aus einer Wandleuchte, die gerade nicht eingeschaltet war. Er warf das Leuchtmittel auf den Boden, so daß es zersprang. Als er in die Scherben griff und eine herausnahm, die geeignet war, sich damit zu schneiden, fiel ihm auf, wie sorgsam er dabei vorging, gerade als wenn er vermeiden wollte, sich zu verletzen. Diesen Widerspruch konnte er sich nicht erklären. Er stand ratlos vor den Scherben, so wie er eben noch vor der Zarge gestanden hatte.
Tain setzte sich auf einen Mauervorsprung und zündete sich eine Zigarette an. Das Rauchen war im Gebäude verboten. Tain ging davon aus, daß die Zerstörung eines Leuchtmittels mehr Gewicht hatte als das Rauchen und daß ohnehin nichts mehr zu gewinnen war.
Tain genügte die Zigarette nicht. Er wollte etwas anderes. Es sollte etwas sein, das Erinnerungen löschte und mit dem man erreichte, daß man sich selbst nicht mehr wahrnahm.
"Ich will weg", dachte er, "Hauptsache, weg."
An die Medikamente im Depot wagte Tain sich nicht heran. Seit dem mißglückten Versuch, auf der Reise nach L /. 7 eine Tablettenschachtel zu entwenden, ging Tain davon aus, daß es nahezu unmöglich war, in solche Räume zu gelangen, ohne rasch entdeckt zu werden.
Tain rief einen Bekannten namens Revco an, von dem er wußte, daß er mit Tabletten handelte. Er fragte Revco, ob er etwas hatte, das einem half, sich selbst zu verlassen.
"Warum willst du das denn?" erkundigte sich Revco.
"Weil ich nicht mehr ich sein will", gab Tain zur Antwort. "Ich will weg von mir, nur weg."
"Dann bring' dich doch um."
"Das habe ich versucht, aber ich schaffe es nicht."
"Dann fehlt es dir wohl am Willen?"
"Nein, an den richtigen Tabletten."
"Also, ich hätte was da, mit dem du dich wegmachen kannst. Das ist aber mit Sicherheit ohne Rückfahrkarte."
"Das wäre mir recht", nickte Tain. "Ich kann nicht mehr, ich habe einfach genug."
"Dann komm' vorbei. Und such' dir danach einen Platz, an dem sie dich nicht so schnell finden."
"Das ist leichter gesagt als getan. Ich werde mir Mühe geben."
Tain ging nicht, er rannte. Er war sicher, daß er bereits verfolgt wurde. Zwischen ihm und dem schachtähnlichen Geheimweg lag eine Brandschutztür, durch die mußte er hindurch, dann fanden sie ihn nicht so schnell, und er konnte zu Revco flüchten.
Nach fünfzig Metern hatte Tain das Gefühl, bereits mehrere Kilometer gelaufen zu sein. Er sah die Brandschutztür vor sich, die begonnen hatte, sich zu schließen. Tains Hände umklammerten die Griffe der Tür; er konnte aber den Mechanismus nicht bremsen. Die graue Stahltür sank vor seinen Augen ins Schloß. Tain versuchte, die Türflügel auseinanderzureißen.
"Wo willst du hin?" fragte der Android Sel Veey, der dicht hinter ihm stand.
Kein lebendes Wesen konnte sich so lautlos und kühl nähern wie eine Maschine.
Tain wollte sich nicht umdrehen. Er zog weiter an den Türflügeln.
"Sie ist verriegelt", erklärte Sel. "Du kannst die Tür nicht öffnen."
"Du machst die sofort auf", rief Tain und rang nach Luft.
"Wo willst du hin?" wiederholte Sel.
"Du machst sofort die Tür auf", sagte Tain mit gesenktem Kopf, beide Hände an den Türgriffen.
"Das entscheide ich nicht", entgegnete Sel mit unveränderter Ruhe. "Leen ist gleich hier unten, dann kannst du mit ihm sprechen."
Tain wollte sich mit Schwung gegen die verschlossene Flügeltür fallen lassen. Sel umfaßte Tains Arme. Tain hatte den Eindruck, daß er sich eher selbst auseinanderriß, als daß es ihm gelingen konnte, sich von dem Androiden loszureißen.
Der Betonboden mußte kalt sein. Es wunderte Tain, daß er die Kälte nicht wahrnahm, als er den harten, rauhen Boden unter sich fühlte.
Die Flurdecke, so hoch oben, rückte noch weiter weg. Rohre und Kabel liefen darunter entlang, gehalten von stählernen Platten, die silbrig aufblinkten.
"Sieh' zur Decke", bat Sel. "Schau' die Decke an."
Schritte näherten sich. Tain hörte, wie dicht bei ihm ein Kasten auf den Boden gestellt wurde. Er war bereit, sich selbst auseinanderzureißen. Während er dies noch versuchte, bekam er das Gefühl, schon aus mehreren Teilen zu bestehen; jedes lag irgendwoanders, und er konnte die Teile nicht mehr erreichen und die Herrschaft darüber nicht wieder erringen.
"Ich bin verabredet", rief Tain. "Sel läßt mich sofort los ... ich habe eine Verabredung."
"Mit wem?" fragte Leen.
"Das geht dich nichts an", gab Tain zurück.
"Du hättest dich sehr verletzen können an der Tür", meinte Leen.
"Weil sie zu ist, das ist alles", erwiderte Tain. "Mach' sofort die Tür auf."
"Was hast du vor?"
"Das geht dich nichts an."
"Was hattest du mit dem Leuchtmittel vor?"
"Vandalismus", behauptete Tain. "Das hast du doch bestimmt gesehen durch die Kameras."
"Ich hatte nicht den Eindruck, daß du randalieren wolltest."
"Was denkst du denn, was ich wollte?"
"Es kam mir so vor, als wenn du dich umbringen wolltest."
"Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es doch gemacht."
"Vielleicht warst du dir nicht sicher."
Links neben Tain wurde es heller. Aufzugtüren öffneten sich.
"Sel läßt mich sofort los", rief Tain, "sofort ..."
Er sah Rega und Les. Ihr Verhalten hatte etwas Mechanisches. Sie taten nichts Eigenständiges, sondern befolgten nur Befehle, ähnlich wie Sel Veey.
Tain versuchte, die Teile seines Körpers wiederzufinden, die auf dem Flurboden verstreut lagen. Unterdessen wurde es merkwürdig still. Ein Gefühl der Zuversicht stieg in ihm auf. Die Umgebung schien in weiter Ferne zu versinken.
Es war eine trügerische Wahrnehmung. Tain sah die mattsilbernen Wände des Lastenaufzugs, die mit grauen Kachelwänden verschwammen.
"Das ist nicht mehr der Aufzug", dachte er.
"Nein, wir sind nicht mehr im Aufzug", bestätigte Leen.
"Revco", erinnerte sich Tain. "Ich muß Revco anrufen."
"Nachher kannst du ihn anrufen."
Das Licht, das von der Decke kam, wurde kälter und grauer, ähnlich wie Tageslicht. Tain vergaß für einen Augenblick, was geschehen war und wo er sich befand. Es war ein Augenblick zuviel.

"Revcos Tabletten, und es wäre vorbei gewesen", diese Vorstellung ließ Tain in den kommenden Tagen nicht mehr los.
Als er wieder telefonieren konnte, saß er mit dem Telefon in der Hand auf seinem Bett und vermochte seine Untätigkeit nicht zu fassen.
"Sie haben mich zerstört", ging ihm durch den Sinn, "deshalb schaffe ich es nicht mehr, Revco anzurufen."

"Vernichtung" - Tain überlegte, was damit gemeint war. Im Grunde konnte man immer wieder vernichtet werden, so wie er es damals in SalaRien erlebt hatte.
Tain wußte inzwischen, daß ihm auch der Tod keine Erlösung von Gefühlen und Erinnerungen brachte. Ruhelos mußte er umherstreifen mit einer Last, die ihm niemand abnahm. Gefangen in Erinnerungen, ging er, seinen Mantel wie zum Schutz um sich gezogen, von der Waschkaue in den Bettensaal hinüber.
"Was willst du denn hier?" fragte Tain kurz angebunden, als er Katharin erblickte, die nun auf dem vordersten Bett lag, in die seidige Fleecedecke gekuschelt.
"Endlich begegnen wir uns richtig", freute sie sich. "So lange habe ich darauf gewartet."
"Was hast du denn davon, wenn du mir begegnest?"
"Wir sehen uns, wenn wir miteinander sprechen."
"Worüber sollten wir denn miteinander sprechen?"
"Erzähl' mir doch ... irgendwas", schlug Katharin vor, "was dir halt gerade so einfällt."
Tain setzte sich auf einen Stuhl aus grobem Holz.
"Was mir einfällt ...", sagte er nachsinnend, "was fällt mir gerade ein ... ich sehe eine Lounge vor mir, mit gedämpftem Licht, alles sehr schick, lederbezogene Bänke, viel Schwarz ... ach - das ist das 'Vielleicht', so heißt das. Das 'Vielleicht' ist eine Lounge auf Saroud, eine In-Location in Birkwald, wo man sich herzeigt ... wo man herzeigt, was man darstellt, nur nicht sein Inneres. Die Stühle sind Design-Objekte. Eigentlich sind sie nicht bequem. Es gibt eine Stufe in der Lounge, zu einem höhergelegenen Bereich. Da oben sind die Tische niedriger, auch die Sitzmöbel. Und da oben war Leen und hat mich angeschaut. Er war zufällig im 'Vielleicht', wir hatten uns nicht verabredet. Das war damals, als wir uns noch verstanden haben."
"Habt ihr miteinander geredet?"
"Nein, ich wollte das nicht. Leen hat mir zugenickt, ich ihm auch ... das war alles."
"Warum wolltest du nicht mit ihm sprechen?"
"Er hat mich angeschaut, als wenn er vor allem das von mir wissen will, was ich verberge."
"Und was verbirgst du?"
"Alles, was ich mir selber nicht verzeihen kann."
"Und was ist das?"
Tain schwieg. Er legte sich im Mantel zu Katharin auf das Bett. Sie zog die Flauschdecke über sie beide und legte einen Arm um seine Schultern.
"Wenn du das machst, bin ich gleich wieder weg", warnte er.
"Magst du das nicht?" erkundigte sie sich.
"Sicher mag ich das", entgegnete er. "Wer mag das nicht?"
"Und warum willst du dann weg?"
"Ich sage nicht, ich will weg", berichtigte Tain. "Ich sage, ich bin weg ..."
"Wer entscheidet das?"
"Keiner. Es ist halt so."

-   -   -


Tain saß auf dem vordersten Stahlrohrbett, auf der Fleecedecke. Katharin stand vor ihm, die Fensterwand im Rücken. Tain hob die Hände, so daß Katharin ihm nicht näherkommen konnte.
"Du faßt mich nicht an", bestimmte er. "Niemand faßt mich an."
"Es ist seltsam", meinte Katharin, "du gehst mit lauter fremden Frauen ins Bett, aber wenn ich vor dir stehe, darf ich dich nicht einmal berühren."
"Das mit den Frauen ist etwas anderes", entgegnete Tain. "Die können mir nichts tun."
"Was kann ich dir denn tun?"
"Du nimmst mir alle Energie weg."
"Wie geht das vor sich?" erkundigte sich Katharin. "Ich stehe hier doch nur."
"Setz' dich da hin", verlangte Tain und wies auf den Stuhl in der Ecke neben dem Bett. "Nein, nicht näher 'ran - du bleibst schön weit weg."
"Tain, du siehst erschöpft aus", stellte Katharin fest. "Wie kann das sein? Du bist im Jenseits, da gibt es doch keine Erschöpfung mehr."
"Das sind die Erinnerungen", gab Tain zur Antwort. "Die werde ich nicht los."
"Woran erinnerst du dich jetzt gerade?"
"An Raum beta/b."
"Was war in Raum beta/b?"
"Das brauchst du nicht zu wissen."
"Haben die Erinnerungen irgendetwas mit Leen zu tun?"
"Wie kommst du jetzt da drauf?"
"Du hattest ihn letztes Mal erwähnt."
"Der hat damals immer behauptet, mich vor dem Tod bewahren zu wollen."
"Und das stimmte nicht?"
"Der brauchte irgendein Opfer, das war alles."
"Hattest du irgendwen, der für dich da war?"
"Du bist nicht für mich da gewesen, du", sagte Tain vorwurfsvoll. "Du hast mich nicht davor bewahrt, mich zu Tode zu rauchen."
"Das hätte niemand verhindern können", war Katharin sicher. "Wenn ein Mensch sich für den Tod entscheidet, wird er sterben."
"Ich habe mich doch gar nicht entschieden", widersprach Tain. "Ich habe einfach nur so weitergemacht wie immer und mich zu Tode geraucht."
"Du hast dich jedesmal entschieden, die Zigarette anzuzünden, die du aus der Schachtel genommen hast."
"Das war keine Entscheidung", behauptete Tain. "Das war Sucht. Und das ist eine Krankheit."
"Wie hätte ich dich denn vom Rauchen abhalten können?"
"Du hättest mich einsperren müssen."
"In was denn?"
"In einem bewachten Gebäude mit verschlossenen Türen."
"In der Psychiatrie?" fragte Katharin. "Da wärst du schneller draußen gewesen, als du 'reingekommen wärst. Die hätten dich nie dabehalten, schon gar nicht geschlossen. Außerdem gibt es kaum einen Ort, wo so viel geraucht wird wie in einer psychiatrischen Klinik. Da können höchstens noch die Raucherbereiche in Clubs und Discotheken mithalten."
"Es hätte ein Haus sein müssen, in dem ich nicht mit Zigaretten in Berührung komme."
"Wer sollte denn dein Privatgefängnis bezahlen?" gab Katharin zu bedenken. "Und wer verschafft mir die Rechtsgrundlage, dich einzusperren? Du willlst mir doch nicht weismachen, du hättest dich freiwillig einsperren lassen."
"Nein."
"Eben."
Tain nahm eine Zigarette in die Hand und betrachtete sie.
"Jetzt darf ich, und jetzt will ich nicht mehr", sagte er versonnen. "Dabei könnte ich unendlich viele Zigaretten rauchen, und es würde mir nichts mehr tun."
"Vielleicht willst du es deshalb nicht mehr."
"Steh' mal auf", bat Tain, und Katharin erhob sich von ihrem Stuhl. "Dreh' dich mal ... du siehst heute echt schick aus. Das Kleid ..."
"Das habe ich gestern gekauft", erzählte sie.
Das schwarze Lederkleid bestand aus einem Oberteil mit Puffärmeln und tiefem Ausschnitt, einem weiten schwarzen Röckchen und einem breiten Taillengürtel, der vorne mit Aluminum verziert war.
Tain ließ sich auf das Bett zurücksinken und betrachtete Katharin mit einem Lächeln, das ihm nicht bewußt zu sein schien.
"Hast du ein Hundehalsband um?" fragte er.
"Nein, das ist ein Choker", berichtigte sie. "Das ist ein ledernes Halsband, und vorne ist eine Kette dran, als Zierde."
"Oder zum dran Ziehen."
"Wie man will."
"Ach, daß du dich für einen Toten soo schick machst ..."
"Da kann ich nichts für, daß ich im Traum diese Sachen anhabe."
"Wer weiß ..."
Tain zupfte an Katharins Rock herum und fragte unvermittelt:
"Wovor kann Haß schützen?"
"Wie kommst du auf diese Frage?"
"Leen hat mal gesagt, wenn man haßt, kann das ein Schutz sein. Aber er hat mir nicht gesagt, wovor."
"Was meinst du denn, wovor Haß schützen könnte?"
"Ich frage halt nur", sagte Tain wie entschuldigend. "Vielleicht weißt du es ja."
Katharin schwieg und schaute in den Bettensaal mit seiner bedrückenden Atmosphäre.
"An was denkst du?" wollte Tain wissen.
"Du sagst, du kannst es nicht ertragen, wenn jemand über dich bestimmt", überlegte Katharin. "Wie war das kurz vor deinem Tod?"
"Wie war was?"
"Da haben die Leute im Krankenhaus doch alles Mögliche mit dir gemacht ... und du hast das mit dir machen lassen."
"Den Laden hatte ich doch voll im Griff", behauptete Tain, "bis zuletzt - alles unter Kontrolle."
"Wovor hattest du mehr Angst, vor SalaRien oder vor dem Krankenhaus, wo du gestorben bist?" wollte Katharin wissen.
"Mit Angst habe ich noch nie etwas zu tun gehabt", entgegnete Tain betont beiläufig.
"Du hast damals zu mir gesagt, vor vielen Jahren, daß du Angst davor hast, daß ich mich von dir abwende", erinnerte sich Katharin. "Du hast gesagt, du hast Angst, daß Schluß ist, wenn ich dich richtig kenne."
"Damals!" höhnte Tain. "Damals, was war damals? Damals, das ist Vergangenheit, und die Vergangenheit ist eh tot. Aber - wie kommst du eigentlich auf SalaRien?"
"Staale hat da was erzählt ..."
"Was - hat -", wurde Tain laut und sprang auf. "Was -"
Katharin wich innerlich zurück. Tain betrachtete die reglos vor ihm stehende Katharin und wirkte unschlüssig.
"Ich warne dich", sagte er schließlich, leise und mit Drohgebärde. "Bleib' mir weg mit SalaRien."
Katharin blickte ihn unverwandt an.
"Was willst du?" fragte Tain, kurz angebunden. "Was willst du von mir?"
"Dich will ich", gab sie zur Antwort.
"Aber ich bin nicht mehr da", erwiderte Tain heftig. "Ich bin nichts, und ich kann dir nichts bieten, rein gar nichts. Selbst wenn ich mich zu dir bekennen würde, hättest du nichts davon. Du hast nichts von einem Toten, weil er nicht vorhanden ist. Begreifst du das nicht, oder willst du das nicht begreifen?"
"Für mich bist du vorhanden."
Katharin ging einen Schritt auf Tain zu.
"Du bleibst, wo du bist!" wehrte er ab. "Du kommst mir nicht zu nahe, das sage ich dir."
Er ließ sich auf das Bett fallen und blieb da sitzen, in sich zusammengesunken. Er wirkte matt und niedergeschlagen.
"Willst du eine Antwort auf deine Frage?" erkundigte sich Katharin.
"Welche Frage?" kam es von Tain.
"Du wolltest wissen, wovor Haß schützen kann", rief sie ihm ins Gedächtnis. "Dazu müßte ich allerdings auch dich Einiges fragen dürfen."
Er schüttelte den Kopf.

-   -   -


Tain saß noch immer auf dem Bett, als Katharin längst fort war. Er hätte nicht sagen können, ob er Katharin vermißte oder sich über ihre Abwesenheit freute. Ebensowenig hätte er sagen können, ob er seine Erinnerungen an SalaRien herbeirief oder ob sie ihn überfielen. Dieses Mal erinnerte er sich an den Saal aus schwarzem Stein, wo Léry großflächige Bilder ausstellte, helle Papierstreifen, die mit grauschwarzen Figuren bemalt waren. Tain stand in der Mitte des Saales und betrachtete die Bilder, die Léry an feinen Drahtseilen aufgehängt hatte, quer durch den Saal, in mehreren Reihen. Léry hatte auf handgeschöpftes Papier gemalt. Tain versuchte, den Ausdruck der schemenhaften Figuren zu ergründen.
"Warum machst du das die ganze Zeit?" wollte Tain von Léry wissen. "Du hast doch irgendwann genug gemalt, oder?"
"Malen ist für mich wie Leben", erklärte Léry.
Tain blickte hinüber zu den Rauhglas-Mosaikfenstern in den Ecken des Saales, durch die blasses Tageslicht hereinkam, wie aus weiter Ferne. Die Welt hinter den Glasmosaiken schien unerreichbar.
"Du malst immer dasselbe", bemerkte Tain. "Also - nicht ganz dasselbe, sondern selbstähnlich, fraktal."
"Das sind fraktale Darstellungen, das stimmt."
"Warum machst du das?"
"Fraktale Bilder können helfen, Gedanken zu ordnen, vor allem Erinnerungen", meinte Léry. "In Fraktalen kann man sich verlieren, so wie man sich in Erinnerungen verlieren kann. Der Unterschied ist, daß man fraktale Bilder selbst herstellt und selbst entscheidet, wie sie aussehen, während Erinnerungen sich aufdrängen und einen überfluten können, so daß man nicht mehr selbst über seine Gedanken entscheiden kann. Im schlimmsten Fall ist man von sich selbst getrennt und vom Leben getrennt. Fraktale Bilder können einen ins Leben zurückbringen."
"Oder das Gegenteil ... man weiß ja nicht, was man damit alles heraufbeschwören kann."
Als Tain um sich schaute, entdeckte er Sel Veey an der Eingangstür.
"Seit wann haben Roboter Sinn für Kunst?" fragte Tain herablassend.
Sel schwieg.
"Du wartest auf mich", folgerte Tain.
"Ja", bestätigte Sel.
"Du wartest vergebens", erwiderte Tain.
Die Stille im Saal, die Tain bislang als beruhigend erlebt hatte, wirkte nun bedrängend.
"Wirst du nie ungeduldig?" fragte Tain.
Sel schüttelte den Kopf.
"Und wenn dein Akku leer wird ...?" wollte Tain wissen. "Was machst du dann?"
"Ich suche eine Steckdose und lade mich auf."
"Und wenn du keine Steckdose erreichen kannst, was dann?"
"Dann gehe ich aus."
"Wie ist das für dich?" forschte Tain. "Ich meine, die Vorstellung, daß du ausgehst?"
"Was denkst du, wie sich das für einen Androiden anfühlt?"
"Gar nicht, oder? Ich meine - Gefühle hast du doch nicht?"
"Nur als Teil meiner Programmierung, nicht als Teil meines Selbst, weil mein 'Ich' nur virtuell besteht, nicht als Persönlichkeit."
"Kannst du diese programmierten Gefühle abschalten?"
Sel nickte.
"Kannst du mir das beibringen?"
"Welche Gefühle willst du denn abschalten?" erkundigte sich Sel.
"Ach, vergiß es", seufzte Tain.
"Willst du dich setzen?" fragte Sel Veey und deutete auf eine Bank an der Seitenwand.
"Bloß nicht", winkte Tain ab. "Das ist nur wieder einer von diesen Tricks ..."
Er hob ein Messer vom Boden auf, das Léry zum Schneiden von Papier verwendet hatte, hielt es Sel entgegen und fragte:
"Wirst du jetzt ungeduldig?"
"Was willst du damit machen?"
"Was denkst du denn wohl?"
"Du braucht es mir nicht zu sagen", antwortete Sel, ohne einen Schritt näherzukommen.
Tain ging zwischen die herabhängenden Papierbahnen und verbarg sich vor Sel Veey. Er stellte fest, daß der Android ihm nicht folgte. Tain blickte auf das Messer in seiner Hand und konnte sich zu nichts entschließen.
"Noch kann ich es tun", ging ihm durch den Sinn. "Ein paar Minuten bleiben mir."
Léry war hinter den Papierbahnen verschwunden. Vielleicht hatte der Saal einen rückwärtigen Ausgang.
Tain hörte Sels Telefon klingeln. Sel sprach ein paar Worte, die Tain nicht verstand.
"Ich würde die Kunstwerke zerstören, wenn ich es hier tue", dachte Tain. "Das wäre Léry gegenüber nicht nett. Andererseits wäre das auch wieder eine Form von Kunst ..."
Tain begann zu frieren und verschränkte die Arme.
"Daß es hier so kalt ist", dachte er verwundert, "das kam mir erst gar nicht so vor. Vielleicht sollte ich etwas Alkoholisches trinken."
Leen ging zwischen den Papierbahnen hindurch auf Tain zu, der das Messer noch immer in der Hand hielt.
"Warum tust du es nicht?" fragte Leen.
Tain verbarg die Hände hinter dem Rücken, damit Leen das Zittern nicht auffiel. Leen nickte ihm zu und verließ den Saal wieder.
"Was hat er vor?" jagte es durch Tains Gedanken, während er in den abstrakten grauschwarzen Gestalten auf Lérys Bildern nach einer Antwort suchte.
Leen kam nach wenigen Minuten zurück mit einer Flasche aus Kunststoff.
"Das ist fast reiner Alkohol", erklärte er. "Den habe ich aus dem Pharma-Schrank geholt."
"Und was soll ich damit?"
"Es geht mir darum, herauszufinden, was du wirklich tun würdest."
"Und das Risiko gehst du ein und hast keine Angst um deinen Job."
"Ganz ehrlich - ich habe keine Angst um meinen Job, was auch immer passiert."
"Entweder du bist leichtsinnig", urteilte Tain, "oder völlig naiv."
Leen stellte die Flasche auf einen Tisch vor der Fensterwand.
"Wer sagt mir, was du da wirklich 'reingefüllt hast?" fragte Tain. "Woher soll ich das wissen?"
"Du kannst nirgends sicher sein, daß sich in einer Flasche das befindet, was auf dem Etikett steht."
"Ich will rauchen", wandte Tain sich an Sel Veey.
Sel schloß die Tür zu dem schmalen Balkon auf, der an der Fensterwand entlangführte. Tain steckte das Messer ein und folgte Sel nach draußen.
"Was willst du noch hier?" fragte Tain, während er sich eine Zigarette ansteckte. "Warum bleibst du mit mir hier stehen?"
"Wir wollen dir nicht alle Entscheidungen überlassen."
"Ihr überlaßt mir niemals irgendwelche Entscheidungen", hielt Tain dagegen. "Das ist immer nur ein abgekartetes Spiel."
Als die fünfte Zigarette aufgeraucht war, schüttelte Tain die leere Schachtel und verlangte:
"Hol' mir neue."
"Wenn du mitkommst, kannst du dir auf dem Weg selbst welche holen."
"Du holst mir jetzt welche, sofort."
Sel winkte Tain, mit ihm zurück in den Saal zu kommen.
"Erst holst du mir Zigaretten", forderte Tain.
Sel verharrte reglos. Tain fühlte seine Finger kaum noch. Es herrschte strenger Frost.
"Sel stört die Kälte nicht", dachte Tain.
Drinnen war ihm für einen Augenblick, als wenn ihm die Beine versagen müßten. Tain hoffte, daß Leen es nicht bemerkte. So gleichmäßig und sicher wie möglich setzte er sich an den Tisch, auf dem die Flasche stand. Sie war versiegelt, und aus dem Etikett ging hervor, daß sie gefüllt war mit 96%igem Alkohol.
"Wir lassen dich jetzt allein", kündigte Leen an und stellte ein Glas neben die Flasche.
"Wann kommt ihr wieder?" fragte Tain und schaute Sel zu, der die Balkontür abschloß.
"Wann sollen wir denn wiederkommen?" fragte Leen. "Was wäre dir recht?"
"Das darf ich mir also aussuchen?" wurde Tain wütend. "Das ist ja so, als wenn man selber die Zigarettenmarke auswählen darf, mit der einem in der Folter Verbrennungen zugefügt werden ... oder wenn man den Folterknecht selber aussuchen darf, der einen zusammenschlägt."
"Wir werden wiederkommen, ehe es Abend wird", versprach Leen und verließ mit Sel Veey den Saal.
Tain betrachtete die Flasche, die vor ihm stand. Er wollte sich Mut antrinken und sich danach mit dem Messer umbringen, das hatte er sich vorgenommen - und mußte feststellen, daß er es nicht tat.
"Es ist so einfach", dachte Tain. "Warum mache ich es dann nicht? Was hält mich zurück? Was hindert mich daran, zu tun, was ich will?"
Er fühlte eine ohnmächtige Wut in sich, Wut auf sich selbst, Wut auf seine Untätigkeit. Es war eine rohe, heiße Wut, wie vulkanische Hitze in einer Magmakammer. Tain war sicher, daß er sich ohne Zigaretten nicht beruhigen konnte. Er ging zur Saaltür und fand sie verschlossen. Sein Telefon hatte er bei sich, ihm fiel aber nicht ein, wen er hätte anrufen können.
"Léry?" fragte er zögernd.
Der Saal lag in bleierner Stille. Tain betrachtete die hohe Glaswand, hinter der die gefrorene Landschaft im Nebel nur zu ahnen war.
"Und wenn ich ein Fenster einschlage ...", überlegte er.
Dann führte er sich vor Augen, daß alle Fenster alarmgesichert waren.
Trotz der Uhr im Telefon verließ Tain das Zeitgefühl. Die Sekunden quälten sich dahin. Als Leen und Sel Veey zurückkamen, ging Tain ihnen entgegen und fragte:
"Habt ihr Zigaretten dabei?"
"Du hast eben fünf Zigaretten geraucht", gab Sel zu bedenken.
"Eben?" herrschte Tain ihn an. "Eben, sagst du? Was hast du für einen Zeitbegriff? - Ach, du rauchst ja nicht. - Die Uhren ticken schnell, wenn man Raucher ist. Ohne Zigaretten braucht ihr hier gar nicht anzukommen."
"Du kannst dir jederzeit selbst welche holen", versicherte Leen.
"Ach ... und dann ist das wieder so eine Falle", entgegnete Tain. "Was ist jetzt, Sel? Bist du kaputt? Brauchst du einen Neustart?"
Tain lauschte dem Nachhall seiner Stimme und fühlte etwas in sich hinaufkriechen, das ließ ihn erstarren und wollte ihm die Luft zum Atmen nehmen.
"Was hat dich davon abgehalten, dich umzubringen?" fragte Leen.
"Ehrlich, das will ich auch gerne wissen", gab Tain zurück. "Kannst du es mir nicht erklären? Du weißt doch sonst immer alles."
"Was für ein Gefühl war es, das dich daran gehindert hat?"
"Das hat doch nichts mit Gefühlen zu tun, ob man sich umbringt oder nicht."
"Womit denn sonst?"
"Das hat doch nur mit Überlegungen zu tun."
"Und was für Überlegungen sind das?"
"Das Leben hat keinen Sinn mehr, wenn man alles verliert - seine Existenz, alles ..."
"Hast du denn alles verloren?"
"Meine Existenz kann ich vergessen", war Tain überzeugt. "So etwas wie mich behält Staale nicht. Das kannst du mir auch nicht ausreden. Und ich will unbedingt einen Schlußstrich ziehen, bevor es soweit ist. Ich will Staale zuvorkommen."
"Und du hältst das für eine sachliche Entscheidung."
"Das ist ganz eindeutig eine sachliche Entscheidung."
"Und du willst von mir wissen, warum du sie nicht umgesetzt hast."
"Kann doch sein, daß du das weißt."
Leen nickte.
"Und?" forschte Tain.
"Beschreibe das Gefühl, das du jetzt hast", riet Leen. "Es ist der Schlüssel."
"Was soll das denn jetzt? Warum sollte ein Gefühl mich davon abhalten, mich umzubringen?"
"Kannst du das Gefühl beschreiben?"
"Also, wer so tief sinkt, daß er sich von Gefühlen beeinflussen läßt, der kann mir nur noch leid tun."
Tains Blick fiel auf Sel, dessen Reglosigkeit an einen Rechner im Ruhezustand erinnerte. Tain wollte Sel nicht anschauen, konnte aber die Augen nicht fortwenden.
"Sel erwidert meinen Blick nicht", ging Tain durch den Sinn. "Er müßte doch mitbekommen, wie ich ihn anstarre. Es müßte ihn doch aufmerken lassen. Aber nichts tut sich."
"Wir achten vor allem darauf, daß du nicht verletzt wirst", erklärte Leen. "Dir wird nichts geschehen, wenn du dich gegen Sel verteidigst."
"Wie kann man so lügen?" fauchte Tain. "Wenn irgendwer mich verletzt, seid doch ihr das."
"Sel wird dich nicht verletzen."
"Du aber."
"Was ich tue, ist ..."
"Das reicht", unterbrach Tain. "Kein Wort mehr."
Unbemerkt von Tain waren Seera und Les in den Saal gekommen.
"Was wollt ihr denn hier?" fragte Tain von oben herab, als er ihrer gewahr wurde.
"Tain hat ein Messer bei sich", teilte Leen den beiden mit. "Tain, gibst du uns das Messer?"
"Erst holt ihr mir Zigaretten", verlangte Tain. "Dann sehen wir weiter."
"Nehmt ihm bitte das Messer ab", sagte Leen zu Seera und Les.
Tain stand ruhig da, während die beiden nach dem Messer suchten.
"Warum tue ich nichts dagegen?" fragte sich Tain. "Will ich etwa vermeiden, daß ich mich an dem Messer verletze?"
Seera fand das Messer in einer Tasche von Tains Cargo-Hose. Er brachte es zu Lérys Arbeitsmaterial. Sel Veey stellte sich vor Tain und streckte ihm die künstlichen Hände entgegen.
"Du hast die Zigaretten vergessen", erinnerte ihn Tain. "Du wolltest mir doch welche bringen."
"Kommst du mit?" fragte Sel.
"Die Zigaretten", wiederholte Tain. "Du bringst mir die Zigaretten, und ich gehe rauchen."
Tain wollte sich nicht anmerken lassen, was in ihm vorging, als Sel nach ihm griff. Ebensogut hätte er versuchen können, im freien Fall einen Halt zu finden. Die Luft glühte, als wenn Feuer vom Himmel regnete.
Leen kniete bei Tain auf dem schwarzen Steinboden. In der Nähe konnte Tain die Papierbahnen sehen, die Léry bemalt hatte. Das mattgoldene Licht der Deckenstrahler schimmerte durch sie.
"Hat Léry etwa mit Asche gemalt?" fragte sich Tain.
Undeutlich tauchten die silbrigen Schranktüren in dem Raum mit den Milchglasscheiben vor ihm auf.
"Es gibt nur einen Weg", dachte Tain. "Ich muß in den Tod gehen. Endlich. Und niemand soll sich an mich erinnern. Wie kann man verschwinden, ohne Erinnerungen zu hinterlassen?"

Am nächsten Vormittag saß Tain in seinem Zimmer am Tisch, mit dem Gesicht zur Wand. Als die Tür ging, blickte er nicht auf.
"Es ist sowieso immer dasselbe", dachte er.
Er wußte nicht, wieviele Leute hereingekommen waren. Jemand rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich zu ihm. Tain schaute nach, wer es war, und erblickte Staale. Tain sprang auf, taumelte zurück und stieß gegen etwas Schweres, Hohes, das mitten im Zimmer stand. Einen Augenblick später fand Tain sich auf seinem Bett wieder. Sel Veey warf eine Decke über ihn.
"Staale ist nicht mehr hier", sagte Leen. "Was ist es, das dich so erschreckt hat?"
"Staale wird mich 'rauswerfen", war Tain überzeugt. "Er ist hergekommen, um es mir zu sagen."
"Kannst du dir nichts anderes vorstellen, als daß Staale dich 'rauswirft?"
"Nein."
"Staale ist nur zufällig hier in SalaRien", berichtete Leen. "Er wollte dich sehen."
"Warum sollte er mich sehen wollen? Er kann doch alles online."
"Er macht sich Sorgen."
"Weil ich zu nichts mehr gut bin."
"Er sorgt sich um dein Leben."
"Das glaube ich nicht, daß mein Leben in Gefahr ist", blieb Tain bei seiner Ansicht. "Staale schiebt das nur vor, weil er mich 'rauswerfen will."
Leen schüttelte den Kopf.
"Hat dich schon mal jemand 'rausgeworfen?" wollte Tain wissen.
"Zu dem Thema könnte ich dir viel erzählen", meinte Leen, "das gehört aber nicht hierher."
"Du traust dich doch nur nicht, über dich zu sprechen."
"Es geht hier um dich", betonte Leen. "Willst du Staale noch sehen?"
Tain schaute ratlos.
"Vielleicht ist es besser, wenn du ihn erst in Lanwer wiedersiehst", meinte Leen schließlich, "unter anderen Voraussetzungen."
"Doch, er kann hereinkommen, aber ..."
"Tain, er wird dich nicht hinauswerfen."
Staale trat an Tains Bett.
"Es gibt keine Entschuldigung für das, was wir tun", sagte Staale. "Deshalb kann ich dich auch nicht um Entschuldigung bitten."
"Was hast das zu bedeuten?" fragte Tain verwirrt.
"Wir sind alle sterblich und fehlbar", antwortete Staale. "Ich erwarte nicht, daß du uns vergibst."
"Ich verstehe das nicht. Ich verstehe dich nicht."
"Tain, wir wollen dich nicht verlieren."
"Ich verstehe einfach nicht, was er damit meint", dachte Tain, hastig nach Deutungen suchend. "Und wenn ich es nicht verstehe, was geschieht dann?"
Seera und Les kamen ins Zimmer. Staale nickte ihnen zu und ging.
"Staale, hol' mich hier weg", hörte Tain sich sagen.

-   -   -


Katharin vertraute ihre letzten Unterhaltungen mit Tain ihrem Laptop an.
"Daß du immer alles aufschreibst", wunderte sich ihre Freundin Marilene, "du triffst den doch gar nicht wirklich."
Als Katharin von dem Lost Place erzählte, den Tain ihr beschrieben hatte, meinte Marilene:
"Ach, das kann doch auch alles nur ein Zufall gewesen sein. Du solltest dich lieber nach einem lebendigen Mann umsehen."
Katharin entgegnete nichts, sie nickte nur freundlich. All die Ratschläge und Bemerkungen kannte sie auswendig, wie: "Such' dir doch einen anderen!", "Was willst du mit dem?", "Warum denkst du über den noch nach?", "Das lohnt sich doch nicht für dich!", "Der ist dich doch gar nicht wert!"
Sie hatte längst aufgehört, andere um Rat zu fragen, was Tain betraf. Inzwischen war sie sicher, daß niemand ihr raten konnte, außer dem Schicksal und dem Zufall. Die waren launisch und unstet, doch zugleich kreativ, und sie sorgten immer wieder für Überraschungen.
Staale verlangte nicht nach Beweisen, sondern war überzeugt, daß Katharin und Tain sich wirklich im Traum begegneten. Katharin fragte sich, ob es sich dabei auch um Wunschdenken handeln konnte - daß Staale sich wünschte, von Tain etwas zu hören, und vielleicht auch, daß Tain im Jenseits endlich seinen Frieden gefunden hatte. Solche guten Nachrichten konnte Katharin freilich nicht überbringen.
"Tain ist ausgerastet, als ich ihm gesagt habe, daß du mir von SalaRien erzählt hast", berichtete Katharin, als sie in Lanwer mit Staale in der Kaffeeküche saß. "Was war da eigentlich los?"
"In Stellwerk-SalaRien gibt es ein Forschungsinstitut."
"Ja, davon habe ich gehört."
"Tain war dort, im irdischen Jahr 1999, einen Winter lang."
"Das wußte ich auch schon, aber nicht, was da passiert ist."
"Das hatte eine Vorgeschichte", ließ Staale die Ereignisse an sich vorbeiziehen. "Tain wollte 1999 zurückkehren von Saroud. Nach acht Jahren wollte er wieder hierher kommen, in seine Heimat. Wir waren schon auf dem Weg. In der Transporteinheit waren auch Leen und Sel Veey, unser Android. Insgesamt waren zweiundzwanzig Leute an Bord."
"Zählte der Android mit?"
"Nein. Ein Android gilt nicht als Reisender, sondern als Gegenstand. Er hatte auch kein Zimmer, sondern einen Schrank."
"Und ... fährt Sel Veey Auto, ich meine, auf Saroud?"
"Ja", nickte Staale. "Dann sitzt wirklich niemand am Steuer."
"No one driving", zitierte Katharin John Foxx.
"Vollautomatisches Fahren, das merkt aber keiner, weil jeder glaubt, daß da ein menschliches Wesen sitzt, so lebensecht wirkt Sel Veey", beschrieb Staale. "Er hat aber die Kraft einer Baumaschine."
"Den müßte man bei einem Unfall also nicht 'rausschneiden."
"Nein, der kann sich selbst aus einem Autowrack befreien, sofern er nicht zu sehr beschädigt ist. Und sowas macht Angst ... man sollte es nicht verleugnen, daß man mit einem menschenähnlichen Geschöpf unterwegs ist, das bei entsprechender Programmierung in der Lage wäre, die gesamte Crew innerhalb weniger Minuten auszulöschen. Es nötigt einem Respekt ab."
"Hat Tain sich vor dem Androiden auch gefürchtet?"
"Über sowas konnte man mit Tain nicht reden", meinte Staale. "Tain war auf der Reise sehr für sich und hat sich wenig mit den anderen beschäftigt. Dem kam entgegen, daß es in diesen Transporteinheiten für jeden ein Zimmer gibt - zwar klein und schlicht, aber sehr komfortabel. Es gibt sogar künstliche Schwerkraft an Bord. Auf der Reise in einer solchen Transporteinheit kann man sich immer zurückziehen, und das hat Tain getan, wenn er nicht gerade arbeitete. Wir sahen ihn fast nur, wenn er vor einem Monitor saß.
Die Zeit, die man in der Transporteinhelt verbringt, entspricht etwa siebzehn Tagen, die auf Saroud ähnlich lange dauern wie hier. Wir hatten schon die irdische Zeit eingestellt, wir waren mehrere Tage unterwegs, da hat Leen mich darauf aufmerksam gemacht, daß mit Tain etwas nicht stimmte. Das kam uns sehr in die Quere. Reisen zwischen Saroud und dieser Welt hier sind eigentlich nicht durchführbar, die Entfernung ist zu groß. Daß wir es trotzdem können, verdanken wir einer zufälligen Entdeckung, deren Hintergrund uns immer ein Rätsel geblieben ist, die jedoch präzise funktioniert. Das ändert nichts daran, daß jede dieser Reisen alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist.
Ich wollte zuerst nicht wahrhaben, daß mit Tain etwas nicht in Ordnung war. Es war jedoch schon bald unübersehbar. Tain hat jede Hilfe abgelehnt und stattdessen versucht, Tabletten aus unserem Depot zu entwenden. Leen hatte die Bestände im Blick, und es ist ihm sofort aufgefallen. Sel Veey hat Tain vor dem Depot abgefangen. Tain wollte danach in der Kommandozentrale wieder an die Arbeit gehen. Vor unseren Augen ist er zusammengebrochen. Sel Veey hat ihn in das Büro von Leen und Rega gebracht, Raum beta/b."
"Und wenn Leen nicht da gewesen wäre?"
"Wahrscheinlich hätten wir Tain irgendwann gesucht und ihn tot in seinem Zimmer gefunden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand anders so wachsam gewesen wäre wie Leen."
"Und, wie ging es weiter?"
"Leen hat sich Unterstützung geholt, Expertise. Ihm war klar, daß er jederzeit mit einem Scheitern rechnen mußte. Von einer Zwischenstation aus wurde Tain nach Saroud zurückgebracht, in das Institut in SalaRien, denn hier unten - in L /. 7 - hätte er keine Chance gehabt. Er wäre wahrscheinlich nicht einmal lebend dort angekommen. Sel Veey, Leen und Rega Mansfeld haben Tain begleitet."
"Dann hattet ihr an Bord keinen Androiden mehr und außerdem gleich drei Leute weniger - das war doch ein bißchen heftig, oder?"
"Es ging nicht anders. Nur so konnte ich halbwegs sicher sein, daß Tain es bis SalaRien schafft."
"Hatte Tain nicht voll die Schuldgefühle, weil er den ganzen Betrieb aufgehalten hat und eure Pläne über den Haufen geworfen hat?"
"In der Situation war Tain nicht in der Lage, über sowas nachzudenken. Aber im Nachhinein auf jeden Fall. Dazu kam, daß Tain es abgelehnt hat, zu glauben, daß sein Leben in Gefahr sein könnte. Es war meine Entscheidung, daß Leen alles tun sollte, was nötig war, um Tain vor dem Tod zu bewahren. Dennoch war es für Leen und seine Kollegen sehr belastend, das umzusetzen."
"Hier unten wäre das unmöglich", meinte Katharin. "Zumindest gibt es die Rechtslage nicht her. Man muß hier den Mut und die Bereitschaft haben, dabei zuzusehen, wie ein Mensch stirbt, dem man hätte helfen können. Das ist der Konflikt zwischen den vorhandenen Möglichkeiten und dem Willen jedes Einzelnen. Tain würde noch leben, wenn man hätte verhindern können, daß er weiterraucht, aber das konnten und durften wir nicht."
"Auf Saroud wäre das genauso gewesen", wußte Staale. "Die Ereignisse in SalaRien konnten nur deshalb so stattfinden, weil wir uns in einem wissenschaftlichen und rechtlichen Vakuum bewegt haben, sowohl durch den beruflichen Status von Tain als auch durch eine ungeklärte Rechtslage."
"Es scheint sich auch um eine wirtschaftlich recht entspannte Situation gehandelt zu haben", meinte Katharin. "Anderswo läßt man die Menschen einfach vor sich hinsterben."
"Ein Kontrast von persönlichem Leid und äußerem Luxus."
"Wie ist man denn auf Saroud so versichert?"
"Diese Details lassen sich kaum vergleichen, das System ist ein anderes."
"Menschlicher?"
"Das fragst du den Falschen", meinte Staale. "Ich will mir nicht anmaßen, mir vorstellen zu können, was die Menschen vielerorts hier unten durchmachen in ihrem oft viel zu kurzen Leben."
"Geht es den Bewohnern von Saroud besser?"
"Das ist Gegenstand unserer Forschung."
"Mir fällt dazu ein, welch maßlosen Aufwand O'Brien in '1984' von Orwell betreibt, um sein Opfer Winston Smith zu demontieren", sagte Katharin in Gedanken. "Vielleicht kennst du den Roman nicht ... Jedenfalls wundert sich nicht nur Winston, warum O'Brien ihn nicht einfach erschießen läßt."
"Und warum läßt er ihn nicht einfach erschießen?"
"Weil O'Brien ein Opfer braucht, denn O'Brien ist Sadist", deutete Katharin. "Und er wird von dem System gestützt, in dem er lebt, denn es wird von staatlicher Seite viel in die Folterung von Systemgegnern investiert. Dafür wird die Bevölkerung umso schlechter versorgt - mit Ausnahme der 'Inneren Partei', der O'Brien angehört. Die 'Innere Partei', das sind die Regierungsverantwortlichen, eine Gruppe machtgieriger Psychopathen. Sie halten ihr System für unsterblich. Das ist es übrigens nicht, denn machtgierige Psychopathen - die zu nichts und niemandem eine emotionale Beziehung haben, also auch keine echten Freundschaften - fangen irgendwann an, sich gegenseitig zu bekämpfen. In '1984' sind sie jedoch noch ausreichend beschäftigt mit dem Quälen ihrer Untergebenen, so daß sie noch nicht auf die Idee gekommen sind, sich gegenseitig auszulöschen.
Sadismus ist für mich die einzig sinnvolle Erklärung, warum O'Brien sich so viel Zeit nimmt für Winstons Demontage. Und ich vermute, daß Tain geglaubt hat, daß Leen - der so viel Aufhebens um ihn gemacht hat - auch Sadist war und einfach nur ein Opfer brauchte."
"Tain war tatsächlich überzeugt, daß Leen einfach nur ein Opfer wollte", erinnerte sich Staale. "Tain wollte nie wissen, was genau mit ihm los war und was in SalaRien mit ihm gemacht wurde. Leen hat immer wieder versucht, es ihm zu erklären - vergeblich. Die Wahrheit schien Tain zu überfordern. Tain hat immer betont, daß er nicht daran glaubte, in Lebensgefahr zu sein. Die Vorstellung, das Opfer eines Sadisten zu sein, schien er besser ertragen zu können."
"SalaRien ... was heißt das eigentlich übersetzt?"
"Das ist die Beschreibung einer Landschaft", erklärte Staale. "Eine Anhöhe, hell, offener Blick, vielleicht sogar 'heiliger Ort', genau weiß man das aber nicht."
"Wenn ich so überlege ... gewissermaßen ist doch Tain überhaupt nur durch seine Karriere in die Situation gekommen, die ihn so sehr belastet hat."
"Du meinst, in SalaRien."
"Ja, diese Verkettung von Umständen, die das, was dort passiert ist, erst möglich gemacht hat."
"Vielleicht war es auch das Spannungsfeld, in dem Tain sich befunden hat."
"An welches denkst du?"
"Tain hat sich selbst verboten, jemals fremde Hilfe anzunehmen, und wenn es ihn das Leben kostete."
"Hat er versucht, sich umzubringen?"
"Mehrfach."
"Und Leen?"
"Er hat ihm diese Versuche zugestanden", erzählte Staale. "Er wollte, daß Tain in Kontakt kommt mit sich selbst und mit all dem, was nicht wahr sein durfte. Er wollte, daß Tain eine Entscheidung trifft - für das Leben oder dagegen."
"Und was hätte das mit Leen gemacht, wenn Tain sich umgebracht hätte?"
"Leen wollte die Entscheidung", meinte Staale. "Die eigene Trauer mußte dahinter zurückstehen."
"Und, hat Tain sich entschieden?"
"Nie."
"Tain hat auch hier unten keine Entscheidung getroffen", fiel Katharin ein. "Er hat einfach weitergeraucht, bis es nicht mehr ging."
"Tain hat gegen seine Angst angeraucht", war Staale sicher, "die Angst, abgelehnt, verletzt und enttäuscht zu werden."
"Tain hat einmal zu mir gesagt, daß er Angst hat, daß ich mit ihm Schluß mache", erzählte Katharin. "Das ist lange her. Später wollte Tain davon nichts mehr wissen. Er hat sogar behauptet, nie Angst gehabt zu haben."
"Vielleicht war das nicht einmal gelogen", vermutete Staale. "Tain scheint Angst zumeist nicht als das wahrgenommen zu haben, was sie ist."
"Ich hatte den Eindruck, daß Tain große Angst davor hatte, hinausgeworfen zu werden."
"Es war vor etwa zwanzig Jahren", erinnerte sich Staale, "da ist einer meiner Mitarbeiter krank geworden, und ich habe ihn angerufen, um ihn zu fragen, wie es ihm geht. Anscheinend hatte er in einem früheren Beschäftigungsverhältnis schlechte Erfahrungen gemacht, und ich habe in ihm etwas getriggert. Er hat geglaubt, ich will ihn kontrollieren und vielleicht sogar hinauswerfen. Es hat lange gedauert, bis ich ihn beruhigen konnte. Solche Mißverständnisse will ich unbedingt vermeiden. Deshalb tue ich so etwas nicht mehr. Nur einmal konnte ich mich nicht beherrschen."
"Hatte das mit Tain zu tun?" fragte Katharin.
"Ja", bestätigte Staale. "Das war in SalaRien. Ich war damals schon in Lanwer, mußte zwischendurch aber nach Stellwerk. Da bin ich in SalaRien vorbeigefahren. Es sah schlecht aus mit Tain, und ich habe gedacht, wenn ich ihn jetzt nicht sehe, sehe ich ihn vielleicht nie wieder."
"Und dann ..."
"Es war erschütternd. Tain hat vor Schreck die Besinnung verloren. Als er wieder zu sich gekommen ist, war er völlig verstört und hat geglaubt, er hätte sich so unmöglich verhalten, daß ich gar nicht anders könnte, als ihn 'rauszuwerfen."
"Ich habe den Eindruck, Tain will sich auf niemanden verlassen", meinte Katharin. "Er wehrt sich dagegen, zu vertrauen."
"Dann weißt du, wie es mir mit ihm gegangen ist."
"Mir hat Tain nie geglaubt, daß ich ihn liebe. Wahrhaftige, bedingungslose Liebe würde anscheinend sein Weltbild zum Einsturz bringen und kann und darf deshalb nicht sein. Und Liebe zuzulassen, das hat mit Vertrauen zu tun."
"Es gab noch so ein Ereignis", erinnerte sich Staale. "Beruflich hatten Tain und ich Kontakt, während er in SalaRien war. Tain hat von dort aus für mich gearbeitet. Er war in seinem Tätigkeitsfeld, wo er sich auskannte, die Situation war für ihn deshalb auch beherrschbar, und er wirkte recht entspannt. Nach einiger Zeit fuhr Tain von SalaRien aus wieder zu seinem Arbeitsplatz, und wenigstens tagsüber war alles wieder fast wie früher. Als Tain jedoch eines Abends nicht nach SalaRien zurückkehrte, ließ Leen ihn am anderen Morgen von Sel Veey an seinem Arbeitsplatz abholen. Danach habe ich Tain in einem Videotelefonat nach seinem Befinden gefragt. Tain bekam von mir keine Kritik, denn ich hatte für sein Verhalten Verständnis. Ich wollte nur wissen, wie es ihm ging. Und das konnte Tain nicht einordnen, er war völlig verängstigt und kaum noch von der Überzeugung abzubringen, daß ich ihn hinauswerfen wollte. Leen hatte lange zu tun, bis Tain sich beruhigte. Tain muß auch damals durch mein Verhalten getriggert worden sein."
"Hing das auch bei ihm mit einem früheren Beschäftigungsverhältnis zusammen?"
"Das glaube ich nicht. Ich denke, das hatte mit Tains Kindheit zu tun und mit dem zurückweisenden Verhalten seines Vaters. Diese Erfahrungen scheinen für Tain allgegenwärtig gewesen zu sein und immer aktuell, so daß er jederzeit durch einen Trigger ins Bodenlose stürzen konnte."
"Wie kann man jemandem Vertrauen vermitteln, der nicht vertrauen will?"
"Das würde bedeuten, du müßtest einem Menschen den unsicheren Boden unter den Füßen wegziehen und ihn durch einen sicheren Boden ersetzen", meinte Staale. "Wie so etwas möglich sein soll, kann ich mir nicht vorstellen."
"Hat Leen das auch schon versucht?"
"Ja."
"Und er ist gescheitert."
"Ja."
"Vielleicht war es Leen so wichtig, Tain dem Tod zu entreißen, weil er selbst todgeweiht war", überlegte Katharin. "Wie alt war Leen eigentlich, als er erfahren hat, daß er früh sterben mußte?"
"Das hat sich allmählich ergeben", erzählte Staale. "Als feststand, daß ihm nur noch wenige Jahre bleiben würden, war Leen zwanzig Jahre alt."
"Wie haben seine Eltern das aufgenommen?"
"Leen ist das Ergebnis einer genetischen Versuchsreihe. Diese Geschöpfe haben keine Angehörigen."
"Aber das verstößt doch gegen die Menschenrechte."
"Saroud ist halt auch nur von gewöhnlichen Lebewesen bevölkert - nicht von Göttern oder moralischen Übermenschen."
"Wo ist Leen aufgewachsen?"
"In einem Heim, das zu einer pädagogischen Versuchsreihe gehörte. Die Kinder hatten viele Freiheiten und Zugang zu jeder Art von Wissen und Erfahrungen."
"Und wer hat sich um sie gekümmert?"
"Erzieher und Forscher. Leen hatte die Möglichkeit, seine Ausbildung in wesentlich kürzerer Zeit zu schaffen, als das sonst üblich ist."
"Und wie sah es aus mit Geborgenheit?"
"Leen hat gesagt, daß er Geborgenheit erst durch Lilly Giulini kennengelernt hat. Damals war er zweiundzwanzig Jahre alt. Lilly vermittelte ihm, daß jedes Leben etwas wert ist, auch wenn es früh endet. Daß Lillys eigenes Leben noch viel früher enden sollte, ahnte niemand. Leen und Lilly kannten sich erst wenige Wochen, als Lilly vor seinen Augen zu Boden fiel und nichts sie retten konnte. Eine Hirnblutung hat sie umgebracht."
"Wie ist Leen damit zurechtgekommen?"
"Er hat gehofft, daß er Lilly nach seinem Tod wiedersieht."
"Wo wurde Leen eigentlich begraben?" erkundigte sich Katharin.
"Er wurde überführt", antwortete Staale. "Er liegt auf dem Gräberfeld der Forschungseinrichtung, die ihn erschaffen hat."
"Man hätte ihm ein gemeinsames Grab mit Lilly gegönnt."
"Lilly hatte ein ähnliches Schicksal wie Leen. Auch sie war ein industrielles Produkt - einem menschlichen Wesen sehr ähnlich, aber fehlerbehaftet und fragil. Die Firma Primestat, von der sie stammt, hat Lilly im firmeneigenen Mausoleum beigesetzt."
"Wenn ich daran denke, was manche Eltern ihren Kindern antun, kann man nicht behaupten, daß ein Kind grundsätzlich bei seinen Eltern am besten aufgehoben ist", meinte Katharin. "Es kommt nicht darauf an, ob die Bezugspersonen mit dem Kind verwandt sind, sondern auf deren Verhalten."
"Wie war das früher, als deine Familie noch mit dir am Kanal gewohnt hat?"
"Eines Tages ist mir klar geworden, wie wenig ich mit meinen Eltern gemeinsam habe", erzählte Katharin. "Meine Schwester Constri steht mir nahe, unsere Eltern jedoch sind wie Fremde. Vielleicht kann man unsere damalige Familie mit einer Firma vergleichen, in der die Chefs das Sagen haben und das Geld verteilen, ansonsten aber kaum einen Bezug zu ihren Untergebenen haben."
"Die sind dann ja auch weggezogen."
"Ja, und ich war froh darüber, nicht mehr unter ihrer Kontrolle zu sein. Constri habe ich sehr vermißt, aber die hatte nicht den Mut, mit mir in dem Haus am Kanal zu bleiben."
"Hast du noch Kontakt zu deinen Eltern?"
"Ja, und das ist mir auch wichtig. Nur weil sie mir fremd sind, heißt das nicht, daß ich sie nicht gerne sehe. Mein Verhältnis zu ihnen hat sich verbessert, seit ich nicht mehr finanziell von ihnen abhängig bin."
"Tain war auf Saroud völlig auf sich gestellt", erzählte Staale. "Thara hatte mit dem Lanwer-Projekt zu tun, und zu anderen Verwandten aus Idas Familie hat Tain kaum je Kontakt aufgenommen. Ich glaube, er hat alles gemieden, was ihn an Ida erinnern konnte."
"Wo ist denn Ida begraben?"
"An ihrem letzten Wohnort, auf einem Dorffriedhof", wußte Staale. "Theodore hat damals ein Grabpflege-Institut beauftragt. Nach zwanzig Jahren werden solche Gräber eingeebnet, das ist also nicht mehr da."
"Unglücklich sein kann man überall: in einer Familie, in einer Beziehung, an einem Arbeitsplatz ... es kommt immer darauf an, mit was für Leuten man zu tun hat", meinte Katharin. "Wie lange ist es eigentlich her, daß du deine Frau verloren hast?"
"Dreißig Jahre."
"Wie ist es dazu gekommen?"
"Daß ich verwitwet bin, ist meine Schuld."
"Warum?"
"Es ging mir zu gut", meinte Staale. "Da bin ich leichtsinnig geworden ... und das wurde ihr - und mir - zum Verhängnis."
"Wie kam das?"
"In meiner Jugend war es, als hätte ich das Glück gepachtet ... was ich auch anfaßte, es gelang ... im Wesentlichen zumindest. Also habe ich geglaubt, ich wäre unverletzbar, mir könnte nichts geschehen. Ich habe mich darauf verlassen, daß es immer so weitergeht. Ich war nicht darauf vorbereitet, daß ich ein genauso sterbliches, verletzbares Geschöpf bin wie alle anderen."
"Und dann?"
"Ich habe immer das große Los gezogen, auch mit meiner Frau Eos. Sie fiel mir einfach zu. Sie war die enttäuschte Freundin eines Kollegen, der andauernd fremdging. Ich mußte nichts tun, um Eos zu bekommen, außer sie in Empfang zu nehmen. Eos und ich waren in unserem Lebensstil sehr ähnlich - wir hatten beide wenig Zeit und einen großen Bekanntenkreis. Kinder wollten wir nicht, weil das nicht zur Karriere gepaßt hätte - dachten wir zumindest. Zehn Jahre lang waren wir verheiratet und lebten sorglos nebeneinander her. Eines Nachts waren wir auf einer Party, und ich habe nichts getrunken, weil ich fahrtüchtig bleiben wollte. Daß Übermüdung genauso gefährlich werden kann wie Alkohol am Steuer, war mir nicht bewußt - vielleicht wollte ich es auch einfach nicht wahrhaben. Wir sind in den Sonnenaufgang hineingefahren, Eos schlief auf dem Beifahrersitz. Was war das für ein Sonnenaufgang ... ich mußte immerzu diese leuchtenden orangevioletten Farben ansehen ... dieses Himmelsfeuer in seiner magnetischen Schönheit ... Einen Augenblick habe ich zu lange hineingeschaut, dann war alles vorbei. Ich dachte zuerst an das Auto, das kaputtging. Dann fiel mir auf, daß ich auch Eos verloren hatte. Ich bin ausgestiegen und auf dem Randstreifen hin- und hergelaufen. Als mich jemand angesprochen hat, konnte ich ihm meinen Namen nicht sagen, ich hatte ihn vergessen. Aber eines habe ich nie mehr vergessen: daß der Tod überall ist und auf uns lauert. Und immer, wenn ich einen langen roten Zopf sehe ... so einen roten Zopf, wie Eos ihn getragen hat - ist alles wie gestern."
"Kommt sie im Traum manchmal zu dir?"
"Sie hat mir längst verziehen."
"Und was machst du mit den Schuldgefühlen?"
"Ich hoffe, meine Schuld wenigstens teilweise ausgleichen zu können, indem ich für andere so viel tue, wie ich irgend kann."
"Wir sind alle bettelarm", meinte Katharin. "Wir besitzen im Grunde rein gar nichts, denn nichts können wir mitnehmen in Jenseits. Blind sind wir alle, denn wir sehen das Wichtigste nicht und wissen nicht, warum wir in der Welt sind. Und wenn wir einst die blinden Augen schließen, werden wir fortgejagt aus der Welt, fort von allem, was uns etwas bedeutet hat. Für mich war hier unten der Tisch nicht gedeckt. Was auch immer ich erreicht habe, ich mußte es erkämpfen. Und am Ende verliert man doch alles wieder. Die Welt gehört uns nicht. Nicht einmal wir selbst gehören uns. Wir haben uns nur ausgeliehen."

-   -   -


"Das Gefährliche an dir ist, daß du immer auf alles eine Antwort weißt", sagte Tain zu Katharin. "Du bist nicht in Verlegenheit zu bringen. Dich kann man nicht schockieren oder provozieren."
"Warum ist das gefährlich?" fragte Katharin.
Sie saß in dem tristen Bettensaal auf dem Stuhl vor der Fensterreihe. Tain stand im Durchgang zum Waschraum und hielt eine unangezündete Zigarette in seiner Hand.
"Es ist unmenschlich", fand Tain. "Es macht dich unberechenbar."
"All das Grauen, das ich erlebt habe ..."
"Was hast du denn schon erlebt?" fragte Tain höhnisch. "Dir fliegt doch alles zu."
"Menschliche Abgründe sind mir vertraut."
"Woher denn, bitte?"
"Wir sind beide gezeichnet - durch verstörende, zerstörende Erfahrungen."
"Ach, du hast doch noch nichts erlebt."
"Psychopathie ... also das, was wir heutzutage 'Psychopathie' nennen ..."
"Soll das ein Vortrag werden?"
"... es geht um ein krankhaftes Geltungsbedürfnis, verbunden mit einem Mangel an jeglicher Form des Mitgefühls - 'Dissozialität' -"
"Ich will keinen Vortrag hören", winkte Tain ab. "Mit Wissenschaft habe ich nichts im Sinn."
"Psychopathie führt zu dem, was als das absolut Böse bezeichnet werden kann. Nicht nur Folter, Mißbrauch und Mord, sondern auch Neid, Haß, Intrigen, Verleumdung, Erniedrigung und Entwertung gehen darauf zurück. All das ist ein Ausdruck einer Gier nach Zerstörung und Vernichtung - Sadismus -, wie das bei Psychopathen der Fall ist. Psychopathen können zu nichts und niemandem eine lebenswarme Beziehung aufbauen - höchstens zum Schein, zweckgebunden. Beziehungen sind aber das, was dem menschlichen Dasein - und nicht nur dem menschlichen - Sinn und Inhalt gibt. Psychopathen spüren das und spüren zugleich Neid und den Wunsch nach Vernichtung. So verrichten sie ihr Zerstörungswerk. Nicht nur als Tyrannen, Folterer und Mörder treten sie in Erscheinung, auch mit bürgerlich-angepaßter Fassade finden wir sie, als Intriganten, professionelle Lügner, Verleumder - und wo vor allem? Dort, wo sich in der hiesigen Gesellschaft mittelalterliche Machtstrukturen weitgehend erhalten haben und wo Psychopathen Positionen erreichen, in denen sie ihren Sadismus ausleben und Machtmißbrauch betreiben können: Im Berufsleben, insbesondere in hierarchisch strukturierten Firmen. Und damit habe ich mehr als genug zu tun gehabt."
"Du hast auch gut dabei verdient."
"Meine Seele habe ich verkauft", meinte Katharin. "Damit ist jetzt Schluß. Ich bin für immer selbständig."
"Und verdienst immer noch so gut?"
"Besser."
"Du bist nach wie vor Teil des Systems."
"Aber weniger abhängig von perversen Machtstrukturen."
"Bist du als Gerichtspsychiaterin nicht selber ein bißchen pervers?"
"Du meinst, weil ich einen Hang dazu habe, mich mit Psychopathie zu befassen? Man muß seinen Feind kennen, das ist ein Motto von mir."
"Warum bist du dann so für Staale?" wollte Tain wissen. "Du steckst doch immer noch mit dem zusammen."
"Du meinst die Kaffeestündchen. Espresso mit braunem Zucker. Staale hat sich im Laufe seines Lebens sehr verändert. In der Jugend gedankenlos und überheblich, hat er nach dem Tod seiner Frau sein Leben anders ausgerichtet. In seiner Position betrachtet er sich als verantwortlich für seine Untergebenen und sucht das Miteinander, nicht das Gegeneinander. Ja, das ist ungewöhnlich. Ja, das ist selten. Und ich will das unterstützen und verstärken."
"Du weißt über den nicht wirklich viel, oder?"
"Kannst du mir mehr über ihn erzählen?"
"Was willst du denn hören?"
"Was in SalaRien war."
"Vergiß' es", sagte Tain wegwerfend.


-   -   -


... WEITER ...

... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT: TEIL 5" ...

... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT" ...

... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "NETVEL" ...