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Am Kanal
I walked alone through the city streets
I hear the shadows calling my name
Lost in the glow of the neon lights
My heart is calling
Say you will answer me
Never again
Dancing alone under the cloudy moon
Feeling the rhythm, feeling the heat
No one can see all the tears I cried
Dancing alone, lost to the beat
My heart is calling
Say you will answer me
Never again for the dancer
I'm the dancer
Dancing alone here in this crowded room
Millions of faces, but no one I see
Dancing alone, the shadows call too soon
My heart is calling
Say you will answer me
Never again
(A Flock of Seagulls - "Never again")
1983 bis Anfang 1984. Ein kalter Winter.
Katharin wohnte am Kanal, in einer Straße mit mehreren Armen, wie Wasserarme. Die Reihenhäuser waren bis hinauf unter die stählernen Dächer mit grau gestrichenen Brettern verblendet. Aus der Ferne hörte man Geräusche von Industrieanlagen. In der Siedlung war es sonst sehr ruhig. Wenn man hier durchging, hörte man seine Schritte gedämpft auf dem Betonpflaster hallen, zwischen den Bretterwänden hin- und hergeworfen. Selten huschte der Schatten eines Menschen aus einer der Türen, die ebenso verblendet waren wie die Mauern und die man in dem strengen Muster senkrechter Fugen kaum ausmachen konnte.
Die Siedlung gehörte zu einem Gewerbegebiet und war vorwiegend mit Büros belegt. Katharins Heim war früher auch als Bürogebäude genutzt worden. Drinnen waren die Wände mit grau lasierten Brettern verschalt, und auf dem Boden waren matt glänzende graue Fliesen verlegt. Die meisten Zimmer waren fast leer. In Katharins Zimmer war - wie in einem Büro - der Schreibtisch das wichtigste Möbelstück; er stand vor der verglasten Außenwand, die unmittelbar an den Kanal grenzte. Katharins Schränke waren Büroschränke, aus Holz und Stahl, in verschiedenen Grautönen. Außerdem gab es in dem Zimmer einen großen Spiegel und einen sechstürigen Kleiderschrank, silbrig mit eingesetzten graugrünen Glasscheiben. Ton- und Datenträger waren in Betonregalen untergebracht. Das Bett stammte von Katharins Urgroßmutter und war grau lackiert.
Durch die Glaswände des Wintergartens blickte man ebenfalls auf den Kanal hinaus. Hohe Grünpflanzen standen auf dem Boden aus gebrochenen Kalksteinplatten, Ranken hingen aus Ampeln herunter. Es gab Graslilien, russischen Wein, nach Nektar duftende Hoya und einige Pflanzen, deren Namen Katharin nicht kannte. In der Mitte des Wintergartens stand ein geflochtenes graues Sofa, mit einem Tischchen davor.
Der Wintergarten war vielleicht als Foyer gedacht gewesen. Breite Stufen führten abwärts zum Kanal, auch unter Glas.
In den vergangenen Wochen hatte es viel geregnet. Katharin hatte lange an ihrem Schreibtisch vor dem Fenster gesessen und auf das Wasser geschaut. Die feinen Wellen auf dem Kanal spiegelten den verhangenen Himmel wider. Wenn der Regen sie zerschlug, verwandelten sie sich in ein Gewirr aus Ringen in verschiedenen Grau- und Schwarztönen.
Katharin wollte etwas aufschreiben, das sie erfunden hatte und außer ihr niemand. Ihr fiel nichts ein. Sie legte schließlich das Buch beiseite und wandte sich dem Rechner zu, den ihr Arbeitgeber ihr zur Verfügung gestellt hatte. Die Hausaufgaben mußten warten bis morgen früh.
Seit Katharin die Schule gewechselt hatte, war der Erfolg berechenbar geworden. Es gab Neider, die Katharin ihre Punkte nicht gönnten. Für Katharin waren die Neider ohne Bedeutung. Durchtanzte Nächte, Aquarellstifte, das Anfertigen von Collagen aus Fotos in Modezeitungen und Kunstharz-Prospekten, Retro-Second-Hand-Shops und Strickanleitungen, die sie mit ihren Mitschülerinnen austauschte - das war es, was für sie zählte. Und die Suche nach einem Menschen, den sie längst zu kennen meinte, von dem sie aber nicht einmal wußte, ob es ihn gab.
Katharins Eltern waren im vergangenen Jahr mit der jüngeren Schwester Constri weggezogen. Katharin wollte nicht mitkommen, sondern allein in dem Haus am Kanal bleiben. Sie konnte das mit ihrer schulischen Karriere rechtfertigen, die sie nicht aufs Spiel setzen wollte. Die Eltern hatten ihr das Haus überlassen unter der Voraussetzung, daß es ihr gelang, die Miete aufzubringen. Katharin verdiente Geld mit dem Überarbeiten von Texten für Daro Staale. Sie kannte Staale von einer Bildungsveranstaltung, die für Schüler der Oberstufe angeboten wurde.
Von dem, was Katharin verdiente, konnte sie nicht nur die Miete bezahlen, sondern auch teure Kleider und Möbel kaufen. Sie war froh, daß die Eltern nicht zu oft da waren; so ließ sich besser verbergen, was Katharin inzwischen angeschafft hatte.
"Weshalb sollen die das nicht wissen?" hatte Staale gefragt, als Katharin ihm ein weiß lasiertes Sideboard zeigte.
"Das wollte ich unbedingt haben", erklärte Katharin. "Wenn meine Eltern wissen, wieviel ich dafür ausgegeben habe, bezahlen sie mir den Führerschein nicht."
In der Samstagnacht ging Katharin fast immer ins "Elaste", das sich neben der Einfahrt eines Parkhauses befand. Die Einfahrt war schwarzgelb umrahmt. Eine stählerne Rampe führte dort hinauf. Im Parkhaus brannten Leuchtröhren. Zum "Elaste" ging eine Betontreppe hinunter. Drinnen waren die Wände auch aus Beton. Die Theke war mit Stahl verblendet. Schwarzlicht rieselte von der Decke, und weißes Licht schaute vorsichtig hinter den Wandverkleidungen hervor. Es gab mit schwarzem Kunstleder bezogene Sitzbänke. Die Musik war überwiegend elektronisch bis abstrakt. Zu dem Programm des "Elaste" gehörten "Desert Song" von Kissing the Pink, "Unit" von Logic System, "New Gold Dream" von den Simple Minds, "Jimmy Jimmy" von Ric Ocasek, "Under Pressure" von Queen und David Bowie und frühe industrielle Musik von Test Department, SPK und den Severed Heads.
"Die Musik ist es", dachte Katharin. "Deswegen muß ich hierher kommen."
Fast immer war jemand da, den sie kannte, dennoch herrschte im "Elaste" ein seltsames Schweigen, eine Atmosphäre, die niemand durchbrechen wollte. Die Menschen konnten still und in sich gekehrt dasitzen; sie trafen sich und begegneten sich doch nicht. Katharin war die meiste Zeit auf der Tanzfläche und konnte so dem reglosen Stillschweigen entgehen.
"Hier muß doch etwas sein", dachte sie. "Ich fühle, daß hier etwas ist, das ich suche, aber ich kann es nicht sehen."
- - -
Der Winter kam. Auf dem Kanal trieben Eisschollen umher. Hinter dem Haus öffnete sich der Kanal in ein weites Becken. In der Ferne am anderen Ufer ragten Ladekräne in den Himmel. Die nebligen Umrisse der Hafenanlagen schienen in dem Grau der Wasserfläche zu versinken.
Frühmorgens war es so kalt, daß es keinen Sinn hatte, auf den Bus zu warten. Katharin ging zu Fuß, um nicht zu frieren. Feiner Schnee wehte in Wellenlinien über die Gehwegplatten. Rauhreif glitzerte im Licht der Straßenlaternen.
Die Schule, auf die Katharin gewechselt hatte, befand sich in einem müde gewordenen Jugendstil-Gebäude mit hohen Decken und geschwungenen Fenstern. Zur Aufmunterung waren die Innenwände eisblau gestrichen worden. Im zweiten Stock des Schulgebäudes tastete Katharin sich durch einen kahlen Flur, in dem nur die Notbeleuchtung brannte. Unter der Decke gab es eine Fensterreihe. Ein Fenster war gekippt; man konnte es aber nicht schließen, weil der Hebel klemmte.
Katharin schaute auf die Uhr an der Wand. Es war kurz vor acht, dennoch war in dem Flur niemand zu sehen. In Raum 102 lag zerknülltes Papier über die Tische verstreut. Eine Jalousie hing schief von der Decke.
Vor dem Spiegel zog Katharin ihren silbernen Lippenstift nach.
"Berit! ... Berit?"
Katharin meinte zunächst, das Mädchen zu kennen, das mit forschen Schritten hereinkam. Sie drehte sich um und ging ihm entgegen.
"Ach - du bist hier!" staunte das Mädchen.
Katharin war inzwischen sicher, es nicht zu kennen.
"Em ... wo haben wir uns denn schon gesehen?" fragte sie.
"Ich habe dich schon öfter gesehen", war die Antwort. "Ich bin übrigens die Runi. Gertrun Rutt. Und die Berit - Berit aus deinem Gemeinschaftskunde-Kurs -"
"Berit Heimer."
"Genau. - Berit hat dich mir gezeigt und mir so ein bißchen von dir erzählt. Ich wurde unheimlich neugierig darauf, dich kennenzulernen. Wie sich das so trifft! Katharin - ist doch richtig?"
"Ja, ich heiße Katharin."
"Du hast so einen schönen grauen Angoraschal."
"Den habe ich selbst gestrickt."
"Wirklich schön. - Sei mir nicht böse, aber ich muß weiter. Bestimmt lernen wir uns bald mal richtig kennen."
Als das Mädchen gegangen war, lehnte Katharin sich an die Heizung. Ihr fiel ein, daß sie gar nicht gefragt hatte, weshalb hier die Stunde ausfiel und ob der Unterricht in einem anderen Raum stattfand.
Katharin überlegte, ob auch sie gehen sollte, und entschied sich dafür. Unten sah sie Runi am Kaffeeautomaten stehen. Es überraschte sie ein wenig. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihr schon wieder zu begegnen, die es doch angeblich eilig hatte.
Runi winkte ihr zu, und Katharin griff nach ihrem Geldbeutel, um sich Kaffee zu ziehen. Nun hatte der Automat die Eigenart, gelegentlich Brühe und Kaffeepulver zu vermischen. Den Becher mit der ungenießbaren Flüssigkeit, den Katharin erhielt, stellte sie auf ein Sims.
"Willst du gehen?" fragte Runi.
"Eigentlich schon."
"Euer Kurs ist in der Aula. Ihr habt Vollversammlung."
"Ach, ja."
"Du ... hast du Lust, mit 'rüberzugehen?"
"In die Vollversammlung?"
"In unser neues Vereinsheim. Nach nebenan. Wo die Schülermitverwaltung jetzt auch ist. Ich habe da ein Büro, wo es sich ungestört plaudern läßt", warb Runi. "Wenn wir da hingehen, weiß keiner, wo wir sind. Wir können in Ruhe einen anständigen Kaffee trinken."
Der Becher fiel von dem Sims.
Das "Vereinsheim" hatte eine farblose und schmucklose Fassade. Innen war es weiß gestrichen, und alle Wände waren bis in Augenhöhe grau gekachelt.
Runi schloß die Tür zu ihrem Büro, gleich nachdem sie und Katharin eingetreten waren. In einer Kochnische lief eine Kaffeemaschine. Den Mann, der auf der Schreibtischkante saß, stellte Runi als Gangolf Manthey vor.
Gangolfs Figur und Haltung wirkten auf Katharin in einer unbestimmten Weise beeindruckend. Sie fühlte sich innerlich gezwungen, ihn mit Blicken abzutasten. Runi griff nach dem Kragen seiner Lederjacke und gab ihm einen Kuß, den er mit selbstsicherer Gelassenheit ausdehnte.
"Olf, kennst du Katharin?" fragte ihn Runi. "Sie ist mit Berit im Gemeinschaftskunde-Kurs."
"Ach, das ist ...", sagte Olf.
Runi nickte.
"Soll nicht gegen dich sein - aber wir haben ja heftige Sachen über dich gehört", wandte sie sich an Katharin. "Daß der Kurs und du - daß der Kurs mit dir -"
"Das soll nicht so glatt laufen, sagt Berit. Das mit dir und der Kursgemeinschaft", ergänzte Olf.
"Wieso soll was nicht laufen?"
"Berit hat erzählt, da wären Schwierigkeiten aufgetaucht."
"Darunter kann ich mir nichts vorstellen."
"Verstehst du dich denn gut mit deinem Kurs?"
"Verständigung im eigentlichen Sinne findet nicht statt", meinte Katharin. "Ich möchte halt mit meinen Kursmitgliedern nicht näher zu tun haben. Meine Freundinnen sind da nicht. Mit denen habe ich andere Kurse."
"Meinst du denn, du kannst das so?" fragte Olf.
"Was - so?"
"Dich vollkommen aus der Gemeinschaft ausschließen."
"Muß ich mich denn einschließen?"
"Du mußt nicht, du kannst."
"Ja - wo sind dann die 'Schwierigkeiten'?"
"Du fragst mich, wo die Schwierigkeiten sind. Ich sage jetzt einfach mal so: Ich glaube, das weißt du besser als ich."
"Ich finde es einfach schwierig, zu erraten, worauf du hinauswillst."
Runi wirkte belustigt.
"Ich darf mal dazwischengehen, ja?" schaltete sie sich ein. "Wir wollten doch eigentlich Kaffee trinken. Ich hol' mal."
Sie brachte die Kanne und drei schwarze Becher.
"Hier ist auch Sahne - falls du möchtest", sagte sie zu Katharin, setzte sich hin und nahm einen Schluck. "Katharin ... das, was Olf dir da sagen will ... versuch' doch, das ein bißchen mehr an dich heranzulassen. Ich glaube, du verschanzt dich da hinter vorgefaßten Ansichten."
"Was Olf mir sagen will, das weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen."
"Ich - ich finde es toll", bemerkte Runi, "daß du so entschieden deine Haltung verteidigst. Nur muß ich dich ein wenig bremsen. Denn wie ich das gehört habe, sind wohl die Schwierigkeiten mit deiner Kursgruppe, wegen denen wir gebeten wurden, ein Gespräch mit dir zu führen, so drängend ..."
"Ich weiß von keinen Schwierigkeiten", sagte Katharin bestimmt.
"Vielleicht willst du von den Schwierigkeiten nichts wissen", meldete sich Olf.
"Vielleicht haben meine Kursmitglieder Schwierigkeiten damit, mich in Ruhe zu lassen", schloß Katharin. "Vielleicht sind das die Schwierigkeiten."
Das oft wiederholte Wort schmeckte schal im Mund.
"Jetzt mach' doch nicht gleich so zu", bat Runi. "Weißt du was? Auf mich wirkst du unheimlich verkrampft. Wenn du dich nicht innerlich ein bißchen löst, kriegen wir die Sache nie friedlich vom Tisch."
"Wir sehen zu, daß wir mit dir vorsichtig umgehen", beruhigte Olf. "Schließlich mußt du bereit sein zur Mitarbeit. Es muß geprüft werden, inwieweit sich das Problem mit deiner Hilfe lösen läßt."
"Es tut mir leid - ich sehe kein Problem", sagte Katharin. "Ich habe nichts gegen die anderen, so lange sie mich in Ruhe lassen."
"Vielleicht hast du einfach nur eine Riesenangst davor, zuzugeben, daß da doch ein Problem ist", tastete Runi sich vorwärts.
"Dieses Gespräch soll kein Angriff gegen dich sein", versicherte Olf.
"Lassen wir es dahingestellt, als was ich es betrachte", meinte Katharin, "ich werde es jedenfalls abbrechen. Ich habe 'Der Prozeß' von Kafka und Welles gesehen. Ihr müßt euch schon etwas anderes ausdenken, anstatt den einfach nur nachzuspielen."
"Ola!" machte Olf und nahm seine Zigarette aus dem Mund.
Katharin verließ eilig das Zimmer.
"Sicher! Sicher! Niemand hält dich auf!" hörte sie Runi durch die Tür rufen.
Katharin empfand eine zunehmende Müdigkeit. Sie ging in eine Toilette im Erdgeschoß und erneuerte ihren Lippenstift. Ihre Hand zitterte. Sie hatte den Eindruck, daß die Stärke ihrer Nerven hinter der Stärke ihres Willens zurückblieb. Sie wollte nicht durch den Flur auf die Straße gehen, ohne vorher eine gewisse Ausgeglichenheit und Ruhe wiedererlangt zu haben.
"Berit", dachte Katharin. "An der könnte es liegen. Berit scheint mit Runi befreundet zu sein. Und Berit hat mir schon zu verstehen gegeben, daß sie mich nicht leiden kann. Berit war immer die Queen, bis ich in den Jahrgang kam mit Pumps und Minirock und die Punkte abgeräumt habe. Darüber ist die wohl nicht hinweggekommen."
Auf dem Korridor blieb es lange Zeit still. Katharin beobachtete sich im Spiegel. Ihre Schminke ließ ihr Gesicht gleichmäßig kühl und unbeteiligt erscheinen.
"Du, kommst du mal mit?"
Runi hatte die Tür geöffnet. Katharin konnte auf ihre Frage nichts entgegnen. Ihr fehlte die Gewalt über ihre Stimme. Sie blieb stehen, wo sie war und wie sie war.
"Wir wollten nochmal mit dir sprechen", erklärte Runi.
Olf kam schließlich mit schlaffen Schritten herein und sagte:
"Kann ich mir gleich eine anstecken."
Er suchte in seinen Hosentaschen.
"Also, das eben ... was da eben gekommen ist", begann er, "wir wußten nicht so recht, was wir damit anfangen sollten. Kannst du uns dazu vielleicht nochmal was sagen?"
"Ich denke, ich habe mich hinreichend geäußert", entgegnete Katharin nach einer Pause.
"Das eben denken wir nicht", widersprach Runi.
"Weißt du", setzte Olf an, "es gibt so Dinge, die kann man in einer Gruppe nicht machen."
"Ich lege keinen Wert darauf, dir weiter zuzuhören", fiel Katharin ihm ins Wort.
Runi und Olf sahen sich in die Augen. Runi ließ die Toilettentür zufallen und machte Olf Platz.
"Weißt du denn, warum wir mit dir sprechen?" fragte Olf.
"Ich habe genug gesagt, Olf."
"Das finde ich nicht. Ich glaube, wir können da noch mehr 'rausbuddeln."
"Würdest du so freundlich sein, aus der Tür zu gehen, Olf?"
Da schlug Runi mit der flachen Hand auf den Waschbeckenrand und lachte herzlich:
"Also, Verzeihung, ich kann nicht mehr."
"Wärst du dann so gut, aus der Tür zu gehen, Olf?"
"Wir können uns ja zur Abwechslung mit den Klobürsten verprügeln", meinte Olf.
"Was wollt ihr von mir?" fragte Katharin.
"Wir wollen gar nichts", antwortete Runi. "Ich glaube, du hast uns immer noch nicht verstanden. Aber das wird noch kommen. Wir gehen jedenfalls erst, wenn deine Vorstellung hier beendet ist."
Sie atmete tief.
"Ich glaube, Katharin - was dir fehlt, ist, daß du mal an Grenzen stößt", fuhr sie fort. "Daß sich dir mal einer in den Weg stellt ... so, wie Olf sich dir in den Weg stellt. Ich meine, da mußt du einfach mal durch."
Katharin sah wieder zu Olf hinüber. Er streckte den Arm aus und aschte ins Becken.
"Wir geben dir alle erdenklichen Hilfestellungen", sagte er.
"Bei was?" fragte Katharin.
"Jetzt gib dir doch mal ein bißchen mehr Mühe", bat Runi. "Wir geben uns schließlich auch Mühe - deinetwegen. Oder glaubst du, wir machen das hier nur zum Spaß? Das ist immerhin unsere private Zeit, die wir für dich opfern."
"Ich dachte, der Kurs hat euch beauftragt. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, euch zu irgendetwas beauftragt zu haben."
"Wir sind scheinbar noch lange nicht fertig", seufzte Olf.
"Was wollt ihr von mir?" fragte Katharin.
Olf schüttelte den Kopf.
"So kommen wir doch wohl nicht weiter."
"Wieso unterhalten wir uns eigentlich in einer Damentoilette?" fragte Runi nachdenklich.
Olf lachte überschlagend.
"Es ist Nötigung", sagte Katharin.
"Was ist Nötigung?" wollte Olf wissen.
"Ein Angriff gegen meine Würde", erklärte Katharin.
"Was ist Würde?" fragte Olf.
"Ich fürchte, das weißt du wirklich nicht", meinte Katharin.
"Sieh uns doch mal an, wenn du mit uns sprichst!" rief Runi.
"Würdest du es würdigen, wenn wir deine Würde würdiger würdigen würden?" ulkte Olf.
Katharin schwieg. Runis Stimme wurde milde.
"Sag' uns ruhig, was du über uns denkst", ermutigte sie. "Dann ist es heraus."
"Sag', was dir in den Sinn kommt ... schrei's uns ins Gesicht ... beleidige uns, wenn du willst ...", unterstützte Olf. "Wir sind nicht aus Pappe, wir fallen davon nicht gleich um. Wir können eine Menge vertragen."
"Katharin. Wenn du weinen mußt, kannst du dich gerne in der Toilettenkabine einschließen", schlug Runi vor. "Wir haben nicht die Absicht, uns an deinen Gefühlsausbrüchen zu weiden."
Die Tür, die Olf noch immer "bewachte", öffnete sich ein wenig, und ein Mädchen schaute durch den Spalt. Es kicherte, zeigte auf Olf und fragte:
"Bin ich falsch?"
"Huch!" rief Olf und zog seinen Kopf zwischen die Schultern. "Ich glaube, ich muß schleunigst 'raus hier."
"Laß' uns doch gehen", sagte Runi. "Wir sind fertig."
- - -
Katharin stand nachts auf und ging in den Wintergarten. Das Licht der Strahler kam vom Hafen herüber und sorgte für eine matte Helligkeit. An der grauen Bretterwand hing eine Kuckucksuhr, die bisher nicht dort gehangen hatte. Die Kuckucksuhr war mit winzigen grauen Brettern verschalt und hob sich kaum vom Hintergrund ab. Katharin stellte fest, daß die Kuckucksuhr einen Anbau hatte, ein Nebenhaus. Das Türchen klappte auf, und der Kuckuck war zu sehen, ein bleicher grauer Vogel. Anstatt in der Türöffnung sitzenzubleiben und "kuckuck" zu sagen, gab er unverständliche Laute von sich und flog an einem Scherengitter hängend weit hinaus. Mit einem leisen, kurzen Schlag berührte er den Anbau der Kuckucksuhr und schnappte dann wieder ins Innere seiner Behausung zurück. Das Türchen schloß sich hinter ihm mit einem "klipp".
Katharin blickte erstarrt auf die Kuckucksuhr. Sie saß aufrecht im Bett und fühlte sich zittern. Sie stellte sich vor, der Kuckuck könnte noch einmal herausfliegen und an seinem Scherengitter durch den Flur bis zu ihrem Bett kommen und sie in der Luft hängend aus seinen Plastikaugen ansehen. Sie wollte nachschauen, ob im Wintergarten wirklich eine Kuckucksuhr hing. Sie holte ihre weißen Ballerina-Schuhe unter dem Bett hervor, zog ein weißes Kleid aus Lochspitze über und raffte ihr Haar mit einer weißen Schleife.
Von Ferne schien das Licht der Strahler durch die Fenster des Wintergartens und glänzte auf den gebrochenen Steinplatten. Die langen, schmalen Blätter der Grünlilien und die Ranken des wilden Weins hingen herunter als reglose Schatten, Ficus und Dieffenbachie ragten hoch aus ihren steinernen Kübeln, und ihre Umrisse bildeten ein bizarres Muster.
Es gab keine Kuckucksuhr im Wintergarten. Katharin setzte sich auf das Korbsofa, griff nach einem schweren, handgesponnenen Garn aus weißem Leinen und nahm Luftmaschen auf. Sie machte immer noch kein Licht an. Ihr war, als müßte sie in sich selbst zerfallen. Sie wollte etwas zusammenfügen, ein Muster bilden, um sich wiederzufinden. Das Leinen war kühl und fest; Katharin ließ es durch ihre Hände gleiten und dachte an die Strickjacke, die sie daraus machen würde.
Etwas später, gegen halb sechs in der Frühe, erschien ihr Auftraggeber, Daro Staale. Katharin nahm ihn mit in die Küche, um dort Kaffee aufzusetzen. Die Küche war ein hoher, schmaler Raum, mattgrau gekachelt bis unter die Betondecke, an der eine Halogenschiene hing. Wenn es draußen hell war, schimmerte auch Tageslicht durch einen Fensterschlitz hoch oben.
"Sie hatten mir von Ihrem ehemaligen Klassenlehrer erzählt", erinnerte sich Staale. "Wie ist es mit dem eigentlich weitergegangen?"
"Ach, Herr Dobrock?" wurde Katharin unsicher. "Der hat nur noch einen Arm."
"Sind Sie daran schuld?"
"Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, was er selber denkt. Es scheint ihm gleichgültig zu sein, daß er nur noch einen Arm hat."
Sie tranken den Kaffee in der Küche, stehend neben der Anrichte.
"Ich habe die Heizung so weit aufgedreht", entschuldigte sich Katharin. "Ich friere immer so."
"Die Heizung stört mich nicht."
"Hier sind noch Katzenzungen aus weißer Schokolade ..."
"Was halten Sie von Runi Rutt?" fragte Staale unvermittelt.
Katharin setzte langsam und vorsichtig ihre Kaffeetasse ab.
"Entscheidend ist, daß Sie wissen, es ist nicht Ihre Schuld, was Runi Rutt Ihnen angetan hat", sagte Staale. "Sie sind nicht schuld."
Katharin hielt sich ruhig und schaute an Staale vorbei, in das Gitter vor einem Lüftungsschacht.
"Das war kein böser Traum", sagte Staale. "Das waren Runi und Gangolf. Und alles, was sie getan haben, war geplant und beabsichtigt. Die beiden üben sich darin, Verbrechen zu begehen, für die sie nicht bestraft werden können. Sie arbeiten für einen internationalen Medienvertrieb namens 'Digital Dignity Doom'. Der Vertrieb handelt mit Videos und Computerspielen. In diesen Produkten tauchen Mitschnitte auf von Folter, Hinrichtungen, häuslicher Gewalt und Pädophilie. Was gezeigt wird, ist nicht gespielt, sondern hat so stattgefunden. Der Vertrieb wird bereits strafrechtlich verfolgt. Digital Dignity Doom kann aber noch mehr. In einer neuartigen Produktreihe sollen Mitschnitte entstehen von Taten, die nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Es geht darum, die Menschenwürde zu untergraben, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Leiser, hinterhältiger Psychoterror soll der offenen Gewalt Konkurrenz machen. Ahnungslose Opfer sollen im Alltag provoziert, manipuliert und gedemütigt werden. Digital Dignity Doom kann höchstens für den Mitschnitt und dessen Verbreitung belangt werden, und auch das ist nicht sicher.
Digital Dignity Doom versucht, gezielte Demütigungen im Alltag so unterhaltsam darzubieten, daß das Publikum seine Freude daran hat. Digital Dignity Doom will keine Fernsehshows anbieten, sondern eine manipulierte Wirklichkeit.
Das Besondere am Psychoterror ist, daß den Opfern häufig niemand glaubt, weil die Taten nicht spektakulär genug sind. Im schlimmsten Fall glauben die Opfer ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr. Es geht um schwerwiegende Angriffe gegen die Menschenwürde, die so leise und unauffällig daherkommen, daß sie nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Zu erfassen, wie solche Angriffe funktionieren und wie die Täter es schaffen, den Ruf und die Existenz anderer Menschen zu vernichten, ohne jemals eine strafbare Handlung zu begehen, das wird in Lanwer erforscht, wo ich arbeite.
Runi und Gangolf haben Sie als Übungsmaterial benutzt. Runi hat Sie mit Absicht in das Vereinsheim gelockt, weil es dort versteckte Kameras gibt."
"Woher wissen Sie das?"
"Wir sind an das Video gekommen, das Runi und Gangolf gestern hergestellt haben."
Staale legte eine Videokassette auf die Anrichte.
"Dies ist das Original", erklärte Staale, "und eine Kopie scheint es nicht zu geben. Wenn Sie damit einverstanden sind, verwenden wir das Video zu Forschungszwecken. Ansonsten haben Sie nun die Möglichkeit, es zu vernichten."
"Den Text schreibe ich heraus", entschied Katharin. "Den können Sie haben - anonymisiert. Das Video werfe ich weg."
"Sie haben das Verhalten von Runi und Gangolf von Anfang an richtig eingeordnet und das Ausmaß an Aggressivität und Sadismus bei den beiden erkannt", meinte Staale.
"Und mir ist bewußt, daß man solchen Leuten nicht beikommt", ergänzte Katharin.
"Sie müssen nicht alleine mit denen fertig werden", sagte Staale. "Es gibt viele Leute und Institutionen, die daran arbeiten, unsichtbare Gewalt sichtbar zu machen."
Katharin blickte auf die Wanduhr.
"Bald werde ich achtzehn", sagte sie nachdenklich. "Und ich habe so vieles nicht geschafft. Die Zeit vergeht, und ich denke immer, ich verliere gegen die Zeit."
"Warum?"
"Es ist eine Suche, die ins Nichts führt, in eine endlose Leere ... in dem Nichts ist etwas, und das ist es, was ich suche. Mir bleibt nur wenig Zeit, es zu finden, und ich muß zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, und wo das ist, kann ich nicht wissen. Der Tod ist mein Gegner. Der Tod ist überall, um mich herum."
"Ein ungewöhnlicher Weg ist oft ungewöhnlich schwer und damit ungewöhnlich weit."
"Mir kommt es vor, als wenn mit achtzehn mein Leben vorbei ist, weil ich nicht gefunden habe, was ich suche."
"Ich habe immer alles gefunden, ohne zu suchen - bis mir eines Tages der Tod begegnet ist", erzählte Staale. "Jetzt bin ich vierzig und habe das Gefühl, daß ich erst anfange, zu leben."
"Ich habe das Gefühl, wenn ich nicht finde, was ich suche, erreiche ich auch mich selbst nicht und bin weit weg von mir."
"Vielleicht gibt es eine Aufgabe, die nur Sie lösen können und niemand sonst", vermutete Staale. "Vielleicht soll Ihnen etwas geschenkt werden, und Sie wissen nur noch nichts davon."
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... WEITER ...
... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT: TEIL 2" ...
... ZUM INHALTSVERZEICHNIS "WIRKLICHKEIT" ...
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